Der schlanke Turm ist höher als der Eiffelturm: 325 Meter ragt er aus dem Amazonas-Regenwald heraus. Deutsche und brasilianische Forscher untersuchen dort demnächst, wie der Wald das Klima verändert und umgekehrt.

Amazonasbecken, am Rio Uatumã - Das einzelne Blättchen, das da plötzlich durch die Luft getänzelt kommt, ist gelb wie der Herbst, und wenn da unten Mitteleuropa wäre, könnte es ein Buchenblatt sein. Aber da unten ist die Welt von Horizont zu Horizont mit einem Dschungelteppich ausgekleidet. Von welchem Baum das Blatt stammt, ist viel weniger interessant als die Frage, welche Kraft es hier hinaufgehoben hat: fast 300 Meter über die Baumwipfel hinaus, bei bestem Wetter und fast völliger Windstille?

 

Sieben Hühnerleiter-Stufen ging es zunächst hinauf zu einer kleinen Plattform, dann nach rechts auf die nächsten sieben Stufen und immer so weiter: 1496 Stufen sind es vom Betonfundament zur Spitze des Turms. Bis zu den Baumkronen in etwa 45 Metern hatte das Auge einen Halt; die Tiefe bedrängte noch nicht. Aber wenn man aus einiger Höhe auf das Blätterdach herabschaute, erschien es da unten beängstigend tief. Kurioserweise verlor sich die Höhenangst weiter oben. Das mag daran liegen, dass der Blick, je mehr Treppchen überwunden sind, immer weniger in die Vertikale geht und immer mehr zum Horizont: Wald, nichts als Wald, bis weit hinter den Rio Uatumã, der in der Ferne glitzert, und darüber ein endlos weit gespannter Himmel. Es muss die Erhabenheit der Natur sein, über der man die Höhenangst vergisst.

Ein Meter mehr als der Eiffelturm: 325 Meter ist diese rot-weiße Nadel hoch, die aus dem Amazonas-Urwald ragt, 150 Kilometer nordöstlich von Manaus. „Ich schätze, dass der Gesichtskreis von hier oben aus einen Radius von 70 Kilometern hat“, sagt Stefan Wolff. Der 35-jährige Meteorologe aus Mainz ist manchmal nachts hier oben: Ein einziges künstliches Licht hat er einmal gesehen, ganz, ganz weit am Horizont. „Hier herrschen fast präindustrielle Luftverhältnisse“, sagt Wolff, denn der Wind weht fast immer aus Ost, und dort erstreckt sich fast bis zum Atlantik nichts als Dschungel, während die Abgase der Millionenstadt Manaus verlässlich nach Westen ziehen. Also ein idealer Ort, um zu erforschen, wie der Wald und das Klima zusammenspielen, ohne dass menschliche Einflüsse dieses Verhältnis verfälschten.

Do-it-yourself geht hier nicht mehr

Als wollte es das gelbe Blättchen, das unerklärlicherweise da oben herumtreibt, dem Laien illustrieren: Es ist erstaunlich viel, was die Wissenschaft von diesem Zusammenhang noch nicht weiß. Deshalb ist der Turm gebaut worden, ATTO genannt, für Amazon Tall Tower Observatory. Es ist ein deutsch-brasilianisches Projekt, Partner sind unter anderem das renommierte Amazonas-Forschungsinstitut INPA in Manaus und das Mainzer Max-Planck-Institut für Chemie. Beide Länder teilen sich je zur Hälfte die Kosten von 8,4 Millionen Euro für die Konstruktion des Turms und die ersten fünf Betriebsjahre, die über das Bundesforschungsministerium und sein brasilianisches Pendant finanziert werden.

Der Turm ist nagelneu, bisher sind noch keine Messinstrumente angebracht. Das wird zurzeit geplant: Wer installiert – und finanziert – was? In welcher Höhe? Wer betreut die Geräte, wer wertet ihre Daten aus? Wenn man von der Spitze hinunterschaut, sieht man unten ganz in der Nähe eine silberne Nadel im Wald: Einen 80 Meter hohen Turm, auf dem bereits seit ein paar Jahren Messinstrumente stehen. Wolff, der dort in verschiedenen Höhen Kohlendioxid, Wasserdampf, Ozon, Stickstoff-Monoxid und -Dioxid erfasst, ist damals vier Tage lang auf dem Turm herumgeklettert, um seine Ansaugschläuche anzubringen. Aber bei ATTO geht Do-it-yourself nicht mehr. Die Geräte werden mit Unterstützung der Firma aus Südbrasilien installiert, die den Turm geplant, seine Segmente auf Lastwagen hergebracht und montiert hat.

„Was atmet der Wald ein, was atmet er aus, und was hat das für eine Auswirkung auf das Klima?“, umreißt Wolff die allgemeine Fragestellung. Von der Grundlagenforschung zu eventuell politisch brisanten Prognosen ist es nicht weit. „Viele Bäume hier können sich nicht gegen längere Trockenperioden schützen, weil das normalerweise ja nicht nötig ist“, führt Wolff als Beispiel an, „aber wenn durch die Abholzung weniger Regen fällt – wie lange dauert es, bis die ersten Bäume absterben? Und wann wird dieser Prozess unumkehrbar?“

Neben den vielen Gasen messen die Forscher 20 Aerosole, Gemische aus Gas und Schwebeteilchen wie Duftstoffe, Pilzsporen, Staub. „Anhand von Größe, Konzentration und Zusammensetzung der verschiedenen Aerosole lässt sich bestimmen, ob und wie gut sie Regen auslösen können“, erklärt die Mainzer Biologiestudentin Isabella Hrabe de Angelis, die ihr Praktikum in einem der Instrumenten-Container am Fuß des Turmes macht. „Vom Menschen verursachte Aerosole stellen wir auch fest – Ruß zum Beispiel, der bei Waldbränden entsteht“, fügt die Biologin Joana Rizzolo von der Universität Curitiba hinzu. Ihr Interesse gilt unter anderem dem Sahara-Staub, den die Passatwinde über den Atlantik treiben. Über dem Amazonasbecken gehen jährlich knapp 28 Millionen Tonnen Sahara-Staub nieder – eine gewaltige natürliche Düngung des Urwalds.

„Definitiv etwas von Abenteuerspielplatz“

Wozu weiter in die Höhe gehen, wo doch der 80-Meter-Turm die Baumwipfel schon deutlich überragt und so viele Erkenntnisse gestattet? „Weil Messungen aus unter 80 Meter Höhe stärker durch die nähere Umgebung geprägt werden“, sagt Wolff. „Bei über 300 Metern erhalten wir mehr Informationen aus der Ferne.“ Nachts, wenn sich der Wald abkühlt und beruhigt, die lokalen Faktoren also wegfallen, „können wir bis fast nach Französisch-Guayana sagen, was in der Luft drin ist“. Und bis dahin sind es rund 600 Kilometer.

Von Manaus aus zwei Stunden auf der Asphaltstraße nach Norden in Richtung Venezuela, dann eine Stunde Holperpiste, eine Stunde Bootsfahrt und noch mal 13 Kilometer Weg: Das ATTO-Camp, in dem die Forscher und ein paar Techniker nachts ihre Hängematten anbinden, steht mitten im Dschungel. „Es hat definitiv etwas von Abenteuerspielplatz“, sagt Wolff vergnügt und erzählt von der Schinderei, den in Deutschland gekauften Containern für die Messinstrumente erst mal ein waagerechtes Fundament zu bauen.

Aber selbst hier zeigt die Zivilisation immer wieder ihre bedrohlichen Seiten. „Am 20. August letzten Jahres, also in der Trockenzeit, haben sich plötzlich die Ozonwerte verdoppelt, die Konzentration des Kohlenmonoxids stieg stark an, auch die Zeiger der Aerosol-Messgeräte schlugen aus“, erinnert sich Wolff. Den Grund zeigten später die Satellitenaufnahmen: große Waldbrände. „Wenn die Abholzungsfront näher rückt, werden wir solche Werte immer öfter haben“, befürchtet Wolff. „Es gibt eben auf der Erde keinen einzigen Punkt mehr, an dem sich der menschliche Einfluss nicht bemerkbar macht.“