An der Stuttgarter Universität planen Achim Menges und Jan Knippers mit Studenten und Naturwissenschaftlern jedes Jahr einen Forschungspavillon. Gebaut werden diese dann nach einem Programmcode von Robotern.

Stuttgart - Sommer für Sommer tauchen sie auf dem Stuttgarter Innenstadt-Campus zwischen den Universitätshochhäusern K I und K II auf: wundersame, fremdartige Gebilde, die alle traditionellen Vorstellungen von Architektur hinter sich lassen und mehr an exotische Pflanzen oder Tiere erinnern. So sieht der blasenförmige Pavillon des Jahres 2015 aus, als verdanke er seine Zeugung zwei verliebten Quallen. Tatsächlich aber haben sich seine Erfinder vom Netzbauprozess der Wasserspinne inspirieren lassen, die nahezu ihr gesamtes Leben unter Wasser verbringt. Zum Atmen benötigt dieser fabelhafte Vielbeiner jedoch Luft. Dafür baut er zunächst ein horizontales Netz, unter dem eine Luftblase platziert wird. Danach verstärkt die Spinne ihr Heim von innen mit Fasern, wodurch eine stabile Hülle entsteht, die mechanischen Belastungen wie Wasserströmungen standhalten kann und der Argyroneta aquatica (wie der lateinische Name der Wasserspinne lautet) eine komfortable Behausung bietet.

 

Den Forschern kam es bei ihrem Experimentalpavillon wie auch bei allen Vorgängerbauten aber nicht darauf an, die Formen der Natur schlicht nachzuahmen. Sie betrachten sich auch nicht als Erben des Stuttgarter Architekturfantasten Hermann Finsterlin, dessen Entwürfe Tiefseeschnecken und Pilzkolonien glichen – auch wenn für ihre Pavillons Seeigel, Käferflügel und Krustentiere wie etwa der nordamerikanische Hummer Pate gestanden haben. Eher sehen sie sich in der Tradition der biomorphen Architektur von Frei Otto. Die Unterschiede sind jedoch signifikant: Ihre Projekte haben keine Idealform zum Ziel wie bei dem legendären Stuttgarter Konstrukteur, sie erkennen vielmehr an, dass es eine „Mannigfaltigkeit des Richtigen“ gibt. Denn was Achim Menges, Professor am Institut für Computerbasiertes Entwerfen, und seinen Kollegen Jan Knippers vom Institut für Tragkonstruktionen und Konstruktives Entwerfen primär interessiert, sind die biologischen Konstruktionsregeln und ihre Übertragung auf das Bauen.

„Die Natur“, sagt Menges, „eröffnet den Zugang zu neuen Formfindungsprozessen.“ Und die digitalen Technologien machen es ihm und seinen Studenten möglich, diese komplexen Formen zu bauen. Vor ihrer Errichtung entstehen die Forschungsbauten jeweils als aufwendige Simulationen am Computer. Im Klartext: die Stuttgarter Pavillon-Pioniere entwickeln die Programmcodes, nach denen Industrieroboter die Experimentallauben schließlich erschaffen, ohne dass noch Menschenhand angelegt werden muss.

Weg mit dem traditionellen Baukasten

Der Architekt als Programmierer – ist das nicht das Ende der Architektur? Professorales Kopfschütteln. Ganz im Gegenteil. „Eigentlich arbeiten wir mit den Werkzeugen von heute. Die Frage ist doch, warum wir nicht viel öfter die Technologie unserer Zeit einsetzen“, sagt Achim Menges. Im Auto- und Flugzeugbau sei das längst gängige Praxis, also warum nicht auch im Bauen? Für Jan Knippers geht es grundsätzlich um die Zukunft des Berufsstands: „Die klassischen Ingenieuraufgaben gibt es heute nicht mehr.“ Brücken, Türme, Staudämme, Tunnels – alles schon da, oder fast alles. Ihm kommt es darauf an, aus den etablierten Entwurfs- und Konstruktionsregeln auszubrechen und bei den Grundlagen anzusetzen – wobei die Biologie ihm hilft, sich zu „entspannen“ und den traditionellen Ingenieurbaukasten loszuwerden, um zu ganz neuen Typologien zu gelangen.

Da ein Ingenieur die Biologie (ebenso wie andere Naturwissenschaften) aber nicht mit der Muttermilch aufsaugt, lautet das Zauberwort interdisziplinäre Forschung. Exakt dafür biete Stuttgart den optimalen Nährboden. Kaum eine andere Hochschule sei so offen für die fächerübergreifende Kooperation verschiedener Institute, weshalb beide Professoren übereinstimmend bekunden, es sei kein Zufall, dass sie in Stuttgart arbeiteten.

Menges, ein junger Überflieger der Profession, der zuvor an der Architectural Association in London und an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach gelehrt hat, ließ sich von der „Kultur der interdisziplinären Zusammenarbeit“ an den Neckar locken. Das Institut für Computerbasiertes Entwerfen ist seine Gründung. Knippers rettete sich einst, angeödet vom eigenen Fach, zu Jörg Schlaich an die hiesige Universität, wo nicht nur über Leichtbauweisen, sondern auch über die baukulturelle und soziale Dimension des Ingenieurbaus nachgedacht wurde. Ihn wundert es nicht, dass hierzulande permanent über Nachwuchsmangel bei den Ingenieuren geklagt wird: „Die wenigsten Fakultäten fragen sich, wie sie das Studium attraktiver machen können.“ In Stuttgart hingegen hätten die Studenten die Chance an revolutionären Neuerungen mitzuwirken und „kräftig mitzurütteln an den Grundfesten dessen, was wir gemeinhin unter Architektur verstehen“, wie die Fachzeitschrift „AD“ über die exorbitanten Stuttgarter Experimentalpavillons schrieb.

An der Folie bleibt nichts kleben

Und im Falle der Qualle, notabene der Wasserspinne? Dem Bau gingen zwei Jahre anspruchsvollster Entwicklungsarbeit von Wissenschaftlern und Studenten voraus. Aufgabe war eine pneumatische Konstruktion. Dafür bedienten sich die Ingenieure beim Gartenbau: Das Material für die Blase – Ethylen-Tetrafluorethylen, abgekürzt EFTE – findet normalerweise in Gewächshäusern Verwendung und könnte kaum banaler sein. Billiger auch nicht. Der Nachteil: es bleibt nichts dran kleben. Kein geringes Problem, denn die weiche Kunststoffhaut sollte nach Wasserspinnenart durch inwendig aufgebrachte Karbonfasern so ausgesteift werden, bis daraus eine stabile, selbstragende Hülle entstand. „Eine gewisse Portion Naivität“ müsse sich der Ingenieur halt bewahren, sagt Jan Knippers dazu grinsend.

Wie es ihm und seinen Kollegen geglückt ist, die Folie auszutricksen, sagt er nicht. Aber es ist geglückt, und so konnte der Roboter in Aktion treten und in computergesteuerter Choreografie die schwarzen Faserstränge befestigen – wie Argyroneta aquatica in ihrem Unterwasserreich.

Das Ergebnis ist ein echtes Leichtgewicht. Ganze 260 Kilo bringt der fertige Pavillon auf die Waage – immerhin 60 Kilo weniger als sein Vorgänger vom letzten Jahr. Und das, was auf den ersten Blick wie ein chaotisches Liniengespinst wirkt, erweist sich bei genauerem Hinsehen als klar ablesbare konstruktive Logik: Das Kreuz und Quer der Bänder verdichtet sich an den Stellen, wo es zur Verstärkung gebraucht wird, und da die Folie gleichzeitig als Gebäudehülle dient, fällt beim Bauprozess keinerlei Abfall an. Ressourceneffizienz und architektonische Innovation kommen aufs Mustergültigste zusammen. Voilà: Ingenieurbau 4.0