Zwölf Jugendliche halten in Fotos den Verlust eines vermissten Menschen fest. Das Ergebnis: eine Ausstellung, die den Betrachter auch dann bewegt, wenn er die Geschichte hinter dem Motiv nicht kennt.

Region: Verena Mayer (ena)

Ludwigsburg - Woran sich Emily erinnert, wenn sie an ihren Vater denkt, ist dieser Trip nach Kroatien. An einem Freitagmittag im Juni brachen sie auf, am Sonntagabend kamen sie zurück. Der Vater hatte etwas zu erledigen, also fuhr er kurzfristig zwölf Stunden runter und zwölf Stunden wieder hoch. „Das war typisch Papa“, sagt Emily, die ihn begleiten durfte. Obwohl keine Ferien waren. Wenn sie sich an diese Fahrt erinnert, dann denkt sie daran, wie stolz sie sich damals gefühlt hat. Wie entspannend die kleine Reise war, trotz des strammen Programms. Und daran, wie der Vater und sie im Auto zum Zeitvertreib „Winterkartoffelknödel“ hörten.

 

Emily war damals neun, heute ist sie 14, und ihr Vater ist tot. Vor dreieinhalb Jahren ist er gestorben. Non-Hodgkin.

In der Trauer nicht allein

Emily kann, wenn sie sich an ihren Vater erinnert, auch daran denken, was für ein Schock es war, als sie von seinem Tod erfuhr. Wie depri sie sich in den Monaten danach fühlte, und daran wie sie sich die Haare kurz schnitt und nur noch schwarze Klamotten trug. Das Foto, das sie im Ordenssaal des Residenzschlosses aufgenommen hat, erinnert an diese Zeit. Im Saal ist es dunkel, fast finster. Man kann sehen, dass das Parkett glänzt und dass die Lichter des Kronleuchters funkeln. Allerdings nur, weil durch drei riesige Fenster Licht dringt. Emily hat ihrem Bild den Titel „out of the dark your light shines“ gegeben. Und wie es da so hängt in der Ludwigsburger Stadtkirche hat es etwas sehr Ergreifendes, auch wenn man die Geschichte dazu nicht kennt.

Zur Geschichte gehört auch, dass mit Emily elf weitere Jugendliche Fotos gemacht haben, die vom Verlust eines geliebten Menschen handeln. Angeleitet wurden sie von der Fotografin Angelika Kamlage, betreut von Nicola Rupps und Michael Friedmann von der Ökumenischen Hospizinitiative im Landkreis Ludwigsburg, bei der auch die Gruppen für trauernde Kinder und Jugendliche angesiedelt sind.

Kein Vater, keine Mutter

Nicoles Vater ist seit fast drei Jahren nicht mehr bei ihr. Er liegt in einem Pflegeheim und erkennt seine Tochter kaum. Ihre Mutter starb vor neun Monaten. Damals war Nicole 14, und konnte sich nicht vorstellen, dass der Schmerz jemals nachlässt. Einen Duft aushalten, der an Mama erinnert? Unmöglich. Weihnachten feiern, ohne den wichtigsten Menschen? Ausgeschlossen. Nicht mehr verzweifelt sein? Unvorstellbar. Drei Monate geht Nicole nicht in die Schule. Sie verkriecht sich bei ihrer Schwester. Das Mitleid der anderen macht alles noch unerträglicher. „Ich hasse es, wenn die Leute sagen, wie unvorstellbar das ist, was mir passiert ist“, sagt Nicole, die in der Trauergruppe Leute kennen gelernt hat, mit denen sie gerne Zeit verbringt. Keine verkrampften Fragen, kein peinliches Schweigen, alle wissen, wie sich Verlust anfühlt, jeder ahnt, was der andere durchmacht.

An der Kette, die um Nicoles Hals liegt, hängen ein kleiner silberner Flügel und ein kleines Herz, das ein noch kleineres Herz in sich trägt. Ihre Mutter hat es ihr zum ersten Weihnachten ohne Vater geschenkt. Den Flügel hat sie von ihrer großen Schwester bekommen. Er symbolisiert den Engel, in den sich Nicoles Mutter verwandelt hat. Nicole wusste sofort, dass es ihre Kette sein wird, die sie für das Fotoprojekt auswählt. „Nicht nur in Gedanken seid ihr hier, sondern auch in der Kette und in mir“, hat sie dazu geschrieben.

Wiederholung erwünscht

Das Gute am Fotografieren ist, dass es grundsätzlich jeder kann. Handy draufhalten und fertig. Oder wie Michael Friedmann sagt: „Das Fotoprojekt bietet einen niederschwelligen Zugang.“ Friedmann ist Seelsorger und Trauerbegleiter und der Initiator des Fotoprojekts. Seine durch Spenden finanzierte Stelle gibt es seit Herbst 2014, im Sommer darauf hat er das erste Fotoprojekt organisiert. Es kam so gut an, dass die Wiederholung sofort beschlossene Sache war. Trauern, sagt Michael Friedmann, ist mehr als Weinen und Reden. Es kann auch kreativer Ausdruck ohne Sprache sein. Für Sasha war das der Grund, überhaupt mitzumachen.

Sasha hat seine Zwillingsschwester verloren. Celina starb vor drei Jahren an einem Tumor, kurz nach ihren 15. Geburtstag. Sasha bedauert, dass er seine Schwester nicht öfter im Krankenhaus besucht hat. Dass er überhaupt nicht mehr Zeit mit ihr verbracht hat, dass er manchmal auch garstig zu ihr war. Was man halt so macht unter Geschwistern. Von Michael Friedmann hat Sasha gelernt, dass er sich keine Vorwürfe machen braucht – nachdem ihn seine besorgte Tante zum ersten Fotoprojekt geschleppt hatte. Sasha hatte nicht viel über seinen vermissten Zwilling gesprochen, eigentlich gar nicht. Er spielte den Starken und hätte sich gerne in echt so gefühlt. Zur zweiten Auflage des Projekts, hat er sich dann freiwillig angemeldet.

Sein Bild zeigt ein Feld in Poppenweiler, Bäume sind darauf zu sehen, eine Bank und eine Schaukel. Das Licht, das die Sonne durch die Blätter schickt, sieht sehr warm und sehr freundlich aus. Celina ist dort oft mit der Tante spazieren gegangen. Den Titel, den Sasha seinem Foto gegeben hat, lautet: „Ich sehe was, was du nicht siehst.“

Heilende Dinge

Die Zeit, heißt es, heilt alle Wunden. Wer jemals sehr, sehr traurig war, weiß, dass das so nicht stimmt. Es sind die Dinge, die in der Zeit passieren, die die Wunden heilen. Bei Emily, Nicole und Sasha ist das Fotoprojekt eines dieser Dinge gewesen.