Ein toter Junge, eine misstrauische Nachbarin: In Peter Hoegs Roman „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ stürzt sich eine Frau mutig in den Kampf gegen ein korruptes System. Im Theater der Altstadt ist nun die Bühnenfassung zu sehen.

Stuttgart - Smilla Jaspersens Leben ist von einer doppelten Heimatlosigkeit geprägt. Die verstorbene Mutter der jungen Wissenschaftlerin gehörte zu den Inuit in Grönland, Smillas Vater hingegen ist Däne. Sie selbst ist damit eines jener Kinder, die nirgends richtig hingehören und in keinem Teil der elterlichen Kultur wirklich zuhause sind. Während Smilla heute vergeblich versucht, sich in einem ärmlichen Teilort von Kopenhagen einzuleben, hallen in ihr die Tage wider, in denen die grönländischen Inuit einst von der dänischen Kolonialmacht unterdrückt wurden. Zwar wurde sie selbst nie Zeuge der Gewalt, doch sie lebt mit deren Trauma. Und trägt deren Widerspruch in sich.

 

„Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ ist ursprünglich ein Roman des dänischen Schriftstellers Peter Hoeg aus dem Jahr 1992 – eine dichte, in der Kälte des nordischen Eises verortete Kriminalgeschichte. Im Theater der Altstadt ist jetzt die Bühnenfassung unter der Regie von Bruno Klimek zu sehen. Auf den ersten Blick fokussiert sich diese zunächst auf den Kriminalfall, der dem Roman seinen Rahmen gibt: Der kleine Inuitjunge Jesaja liegt eines Tages tot im Hof der Wohnanlage, in der auch Smilla lebt. Die Polizei geht von einem Unfall aus, der Kleine sei wohl vom Dach gefallen. Einzig Smilla glaubt nicht an diese Theorie – und stellt Nachforschungen an.

Vom Krimi zur psychologischen Studie

Auf der Bühne werden diese Ermittlungsarbeiten zum zentralen, treibenden Element der Inszenierung. Dennoch beschränkt Klimek sich nicht darauf, hier einen Krimi zu zeigen: Er offenbart vielmehr ein feines Gespür für das Innenleben seiner Hauptfigur und die damit verbundenen Traumata der politischen Konflikte zwischen Grönland und Dänemark. Erst in den 1950er Jahren konnte Grönland sich von der Kolonialisierung Dänemarks emanzipieren, zuvor gab es immer wieder geopolitische Spannungen zwischen beiden Ländern. All das so zu erzählen, dass diese Ebenen im Theater sichtbar, aber gleichzeitig nicht überfordernd werden, ist sicher keine einfache Aufgabe. Schließlich erzählt Hoegs Roman genauso eindrücklich von emotionaler Abschottung und kultureller Zerrissenheit wie von Polarforschung, existenzieller Philosophie – und eben der Aufklärung eines Mordes.

Klimeks Inszenierung meistert diesen Spagat vor allem dank eines mutigen Schritts: Das Stück spart radikal aus, verdichtet die Erzählung und verzichtet dabei auf jegliche Ausschmückungen. Das Bühnenbild zum Beispiel ist bis zum Nicht-Vorhandensein minimiert. Hier gibt es keinen wahrnehmbaren Raum mehr, einzig die formlosen Rücken von fünf, in dicke Wintermäntel gehüllten Figuren, geben dem Zuschauer etwas Halt. Und der Inutitjunge Jesaja liegt vom Anfang bis zum Ende tot am Bühnenrand. Dieser radikale Verzicht könnte schnell einmal etwas hilflos wirken, doch Klimeks Inszenierung schafft mit diesem Stilgriff bewusst Raum für die oft komplexe Erzählung. Die Bühne wird so nicht nur zum Spiegelbild der emotional zurückgezogenen, auf Logik und Zahlen fixierten Hauptfigur. Sie lässt auch genügend Platz, damit sich eine fesselnde Dynamik entwickeln kann, die wie gemacht ist für einen Kriminalfall.

Die Hauptdarstellerin überzeugt

Die Erzählung wird dabei vor allem von Stefanie Friedrich als Smilla Jaspersen geschultert. Sie ist diejenige, die die Zuschauer mit ihrer klaren, pointierten Darstellung durch die verschiedenen Episoden der Handlung trägt. Souverän wandert sie dabei über Textberge und Erzählebenen, springt zwischen Selbstreflexion und Interaktion hin und her – einzig unterstützt durch schnelle, kalte Lichtwechsel und präzise Klänge.

Passend dazu gibt es in dieser Version von „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ auch keine eindeutig erkennbaren Szenenwechsel. Obwohl die Handlung sich mal auf einem Eisbrecher, mal in Kopenhagen und ein anderes Mal im Archiv eines dänischen Instituts abspielt, verzichtet die Inszenierung bewusst darauf, all das visuell zu unterstützen – und das funktioniert. So auf ihre Kernelemente reduziert, entwickelt die Bühnenversion des Romans eine geradezu herrlich-schaurige Sogwirkung.