Auch mit nichts kann man eine Menge bewirken – man muss nur daran glauben. Daran

Wissen/Gesundheit: Werner Ludwig (lud)

Stuttgart - Der Mitarbeiter der Mobilfunkfirma verstand die Welt nicht mehr. Kaum war der neue Handymast aufgestellt, beschwerten sich Anwohner über Abgeschlagenheit, Kopfschmerzen, Nervosität oder Schlafstörungen, die angeblich durch die elektromagnetischen Felder der Mobilfunksignale ausgelöst würden. Es gab allerdings ein Problem: Der Mast war noch gar nicht in Betrieb, konnte also gar keine Funkwellen verbreiten. Trotzdem beobachteten manche Anwohner bei sich die genannten Symptome und noch einige mehr.

 

Experten sprechen in solchen Fällen vom Noceboeffekt. Dabei handelt es sich um den unsympathischen Zwillingsbruder des Placeboeffekts, der Menschen unbestritten gesünder machen kann – egal ob sie eher auf Homöopathie oder Schulmedizin schwören. Beim Noceboeffekt genügt die Vorstellung, dass irgendwo ein potenziell gesundheitsschädlicher Stoff drin sein könnte oder negative Umwelteinflüsse wirken, um die befürchteten Effekte tatsächlich eintreten zu lassen. Das Phänomen tritt auch auf dem Gebiet der Ernährung auf, wo immer mehr Menschen der Ansicht sind, bestimmte Stoffe nicht zu vertragen – und nach dem Genuss entsprechender Speisen die erwarteten Bauchschmerzen bekommen. Natürlich gibt es auch Betroffene, die unter echten Unverträglichkeiten leiden. Aber deren Anteil an der Bevölkerung ist Studien zufolge klein.

Suizidversuch mit Scheinmedikament

Ein besonders krasses Beispiel für den Noceboeffekt ist der Fall von Derek Adams. Der Amerikaner litt an Depressionen und nahm im Alter von 26 Jahren als Proband an einer Medikamentenstudie teil, in der ein neues Antidepressivum getestet wurde. Unglücklicherweise trennte sich in dieser Zeit seine Freundin von ihm. Adams war so verzweifelt, dass er sich umbringen wollte. Er schluckte die übrigen Testpillen und wurde in die Notaufnahme eingeliefert. Nach eigenen Aussagen hatten die Ärzte Mühe, seinen Kreislauf zu stabilisieren. Der junge Mann schien dem Tode nah. Was er nicht wusste: Er gehörte zur Placebogruppe – also zu jenen Studienteilnehmern, die statt wirkstoffhaltiger Pillen nur eine Scheinmedikation erhalten hatten. Als die Ärzte das herausfanden und Adams darüber informierten, verbesserte sich dessen Zustand schlagartig wieder.

Deutlicher lässt sich kaum belegen, dass bereits die Angst vor einer Krankheit krank machen kann. Das Problem kennt mancher auch von der Lektüre sogenannter Gesundheitsratgeber. Sobald man dort liest, welche krankhaften Veränderungen in bestimmten Körperregionen auftreten können, kann man mit etwas Fantasie bald die passenden Symptome bei sich feststellen. Noch mehr Inspiration finden Hypochonder in den unendlichen Weiten des Internets, wo jeder sein gefährliches Halbwissen verbreiten darf. Der Medizinjournalist Magnus Heier berichtet in seinem Buch „Nocebo: Wer’s glaubt wird krank“ von einer Frau, die nach intensiven Netzrecherchen zu der (falschen) Selbstdiagnose Multiple Sklerose gelangte, ohne einen Arzt konsultiert zu haben – ein klarer Fall von Cyberchondrie.

Voodoo-Kult im weißen Kittel

Auch angesichts moderner Diagnosemethoden gewinnt der Noceboeffekt an Bedeutung. So kann allein das Wissen um einen auffälligen Röntgenbefund Schmerzen auslösen. Dabei besteht zwischen dem Zustand von Knochen und Gelenken und orthopädischen Beschwerden kein zwingender Zusammenhang: Manche haben Schmerzen, obwohl der Röntgenbefund keine organische Ursache zeigt – und umgekehrt. Auch die immer populäreren Gentests können Studien zufolge Krankheitsängste auslösen, die in vielen Fällen unbegründet sind. Manche sehen darin eine moderne Form des Voodoo-Kults – nur dass der Zeremonienmeister einen weißen Kittel trägt.

Noch nie gab es so viele Möglichkeiten, sich krank zu fühlen. Da ist am Ende Nichtwissen oft am gesündesten.