Die ungehemmte Digitalisierung verwandelt die Welt nach und nach wieder in ein Dorf. Regelüberschreitungen werden bestraft – und wer brav ist, kriegt Pluspunkte.

Wissen/Gesundheit: Werner Ludwig (lud)

Stuttgart - In China sollte man sich gut überlegen, ob man bei Rot über eine Ampel geht. Wer dabei von einer der zahlreichen Überwachungskameras erfasst wird, kann sein Bild vielerorts gleich auf einem Monitor bewundern – mit dem für alle Passanten sichtbaren Hinweis, dass Herr oder Frau Soundso mutwillig gegen die Verkehrsregeln verstoßen hat. In einigen chinesischen Städten geht die Verkehrserziehung noch weiter. Dort werden wartende Fußgänger verbal davor gewarnt, die Straße bei Rot zu überqueren. Wer die Anweisungen des Systems missachtet, wird mit einem kräftigen Wasserstrahl bespritzt – fast wie auf deutschen Studentendemos in den 60er und 70er Jahren. Da bekam jeder, der sich der Staatsmacht in den Weg stellte, eine ordentliche Salve aus dem Wasserwerfer ab.

 

Im modernen China kümmert sich zunehmend Künstliche Intelligenz um die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Wer sich immer schön regelkonform verhält, bekommt dafür Punkte auf seinem Sozialkonto gutgeschrieben. Wer den normalen Betrieb stört – sei es durch das illegale Überqueren von Straßen oder unflätige Äußerungen über die Regierung –, wird mit Punktabzug bestraft. Und am Ende wird abgerechnet. Wer die meisten Pluspunkte gesammelt hat, bekommt leichter eine neue Wohnung oder einen Studienplatz für seine Kinder.

Neugierige Großmütter statt Künstlicher Intelligenz

Was die Chinesen heute mit viel Technik zu erreichen versuchen, ist eigentlich gar nicht so neu: die perfekte soziale Kontrolle. Auf unseren Dörfern wusste früher auch jeder, was die anderen machten und ob sie irgendwelche Regeln verletzten. Dazu brauchte es keine KI-gestützten Kamerasysteme. Ein paar neugierige Großmütter, die den ganzen Tag auf der Fensterbank lehnten, reichten vollkommen, um die anderen zu überwachen – und Verstöße wie etwa eine unsachgemäß durchgeführte Kehrwoche sofort anzuprangern. Im globalen Digitaldorf wurde der analoge durch den digitalen Pranger ersetzt. Auch der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer hat schon einige Erfahrungen mit diesem Instrument gesammelt. Wer in dessen Stadt seinen fetten Geländewagen falsch parkt, wird mitunter gleich als abschreckendes Beispiel ins Netz gestellt. Und wehe dem, der seinen Müll nicht richtig trennt!

Immerhin zwei von fünf Deutschen würden gerne das Verhalten ihrer Mitmenschen mithilfe eines „Social-Credit-Systems“ nach chinesischem Vorbild bewerten. Das hat eine aktuelle Umfrage des Sinus-Instituts in Zusammenarbeit mit dem Online-Marktforschungsunternehmen Yougov ergeben. Die höchste Zustimmung – nämlich 46 Prozent – hat ein solches Konzept demnach unter den „Performern“. Das sind den Angaben zufolge Angehörige einer „wirtschaftsnahen und effizienzgetriebenen Leistungselite“, die dem technischen Fortschritt positiv gegenüberstehen. Die „Performer“ rangieren in den Schubladen der Sinus-Forscher irgendwo zwischen den „Liberal-Intellektuellen“, den „Sozial-Ökologischen“, den „Adaptiv-Pragmatischen“ und den „Expeditiven“. Alles klar?

Österreich liegt klar vorne

Ein weiteres Ergebnis der erwähnten Umfrage: Die Österreicher sehen ein Sozialpunktesystem weit positiver als die Deutschen. Über alle gesellschaftlichen Gruppen hinweg erhoffen sich 54 Prozent der Bewohner der Alpenrepublik dadurch persönliche Vorteile, in Deutschland sind es hingegen nur 23 Prozent. Mit anderen Worten: Wir liegen im länderübergreifenden Social-Scoring-Wettbewerb gnadenlos zurück. Höchste Zeit, das zu ändern. Ab sofort haben unsere Leser die Gelegenheit, ihr Punktekonto durch besonders aufmerksame Lektüre aufzustocken. Wer noch weiß, worum es im zweiten Absatz dieses Textes ging, erhält sofort 50 Extrapunkte. Dafür kann man in China mindestens drei rote Ampeln überqueren.