Moderne Technik nimmt uns immer mehr ab – sogar das Denken. Ganz abschalten sollten wir unser Hirn aber lieber nicht.

Wissen/Gesundheit: Werner Ludwig (lud)

Stuttgart - Damit dieser Text geschrieben werden konnte – und Sie ihn auch verstehen können –, mussten ziemlich viele unwahrscheinliche Dinge passieren. Es begann kurz nach dem Urknall, als zunächst die leichteren und dann die schweren Elemente entstanden. Als die Erde halbwegs fertig war, waberte in den Ozeanen eine trübe Ursuppe, die immer wieder mal von heftigen Blitzen unter Strom gesetzt wurde. Das fanden manche Atome so inspirierend, dass sie sich mit der Zeit zu einfachen und dann zu immer komplexeren organischen Verbindungen zusammenballten. An irgendeiner Stelle überschritt die Materie dann die Schwelle zu dem, was wir Leben nennen. In den nächsten Jahrmilliarden experimentierte die Natur (wer will, kann hier auch „Gott“ oder „Schöpfer“ sagen) mit allerhand Lebensformen, bis am Ende der Mensch herauskam – eine Spezies, die über ein hochkomplexes Gehirn verfügt und damit sogar über sich selbst nachdenken kann.

 

Biologisch abbaubarer Superrechner

Und was tun wir mit diesem massiv parallelen und zugleich zu 100 Prozent biologisch abbaubaren Superrechner? Leider immer weniger, weil wir immer größere Teile unseres Lebens an die Technik delegieren. Es fing schon mit dem Taschenrechner an, der selbst einfache Rechnungen im Kopf für immer mehr Menschen zu einer Geheimwissenschaft gemacht hat. Auf der Roten Liste der bedrohten Alltagsfertigkeiten steht auch das Kartenlesen, das im Rekordtempo durch Navigationssysteme verdrängt wird. Exzessive Navi-Nutzer scheitern bereits am korrekten Ausrichten einer Karte, weil sich das blöde Ding nicht von alleine in die richtige Position legt.

Auch andere Tätigkeiten wie das Ein- und Ausschalten von Licht und Heizung oder das Befüllen des Kühlschranks erledigen von künstlicher Intelligenz gesteuerte Systeme auf Wunsch ganz von alleine. Das Einkaufen in richtigen Geschäften ist ja auch mit Stress und dem Zwang zu sozialer Interaktion verbunden. Deshalb ordern viele Konsumenten selbst Kleinigkeiten wie eine neue Zahnbürste online – schon bald geliefert von autonomen Drohnen, die das Zeug in den Garten werfen. Auch die Arbeitswelt wird radikal durchdigitalisiert. Pessimisten rechnen mit dem Verlust von Millionen von Jobs. Alles halb so wild, sagen Topmanager von Industrieunternehmen und präsentieren ihre Visionen von der Fabrik der Zukunft: helle, in freundlichen Farben gehaltene Räume, in denen Mensch und Maschine wunderbar harmonisch zusammenarbeiten. Sollten Roboter jedoch wirklich so schlau werden, wie manche glauben, könnten sie von ihren menschlichen Kollegen bald genervt sein: „Jetzt bringt mir dieser Idiot schon wieder die falsche Schraube aus dem Lager – künftig lasse ich mir das komplette Material von einer Drohne bringen, die kann wenigstens Barcodes richtig lesen!“

Fortschreitende Selbsterübrigung

Damit es den Menschen angesichts ihrer fortschreitenden Selbsterübrigung nicht langweilig wird, dürfen sie zumindest so tun, als ob sie produktiv arbeiten würden, während sie ihr bedingungsloses Grundeinkommen verfrühstücken. Beim guten alten Arbeitsamt nannte man das Übungsfirma. Denkt man die Entwicklung zu Ende, brauchen wir am Ende weder zu arbeiten noch zu denken. Wer nicht denkt, braucht allerdings auch kein Superhirn. Wer weiß, vielleicht wechselt die Evolution am Ende ihre Richtung – zurück zur Ursuppe, in der gedankenlose Moleküle unbeschwert dahinschweben. Es gibt nur einen Weg, das zu verhindern: ab und zu das Hirn einschalten.

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