Kultur: Tim Schleider (schl)

Wenn es neben besagtem Instinkt noch eine andere Eigenschaft gab, die ihm half, einer der einflussreichsten deutschen Journalisten zu werden, dann war es diese: Frank Schirrmacher kannte nie die Sorge, in zu große Fußspuren zu treten. Der Sohn aus einem hessischen Beamtenhaushalt ließ sich nach seinem Germanistikstudium 1985 ohne journalistische Vorerfahrung vom Politologen Dolf Sternberger bei der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ als Hospitant empfehlen. Als Marcel Reich-Ranicki 1989 kein Redakteur mehr sein mochte, übernahm Schirrmacher sein Ressort, damals so etwas wie das Zentralkomitee der deutschen Literaturkritik. Und als Joachim Fest, die publizistische Instanz des preußisch-konservativen Großbürgertums in Deutschland, der umstrittene Hitler-Biograf und Alber-Speer-Versteher, 1994 in den Ruhestand ging, da übernahm Schirrmacher keck dessen FAZ-Herausgeberposten.

 

Was dann folgte, war ein atemberaubender Ausbau des FAZ-Feuilletons, sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht. Just mit seinem Gespür für gesellschaftliche Debatten baute er die Frankfurter Kulturseiten zum Debattenteil aus. Anders als seine Vorgänger und Herausgeberkollegen scherte es ihn wenig, ob ein Autor rechts, links oder mittig war. Hauptsache, der Autor war gut und schrieb für ihn. So, wie es ihn auch nicht scherte, ob nur wenige Seiten zuvor im Politik- oder Wirtschaftsteil auch über dieses oder jenes Thema geschrieben wurde, womöglich mit ganz anderem Zungenschlag. Sein Feuilleton war eine kleine Zeitung, eine kleine Welt für sich. Das reichte. Ja, es gab Jahre – das war damals, so rund um die Jahrtausendwende –, da galt das Feuilleton überhaupt als der wichtigste Teil einer Zeitung. Die Kulturressorts von FAZ und „Süddeutscher“, von „Zeit“ und „Spiegel“ spielten sich die Bälle zu und jagten einander die Edelfedern ab. Hauptsache Betrieb.

Ein Sinn für Themen und Thesen

Frank Schirrmacher lässt am 27. Juni 2000 auf sechs Zeitungsseiten die Schluss-Sequenz des kurz zuvor entschlüsselten menschlichen Genoms dokumentieren. Prompt werden alle Feuilletons zu Wissenschaftsforen. Schirrmacher verkündet am 1. August 2000, sein Blatt mache den Unsinn der Rechtschreibreform nicht mit. Prompt diskutiert ganz Deutschland über die Rechtschreibreform, zehn Jahre lang. Schirrmacher führt vier zusätzliche „Berliner Seiten“ ein. Prompt empfinden alle die neue Hauptstadt als pulsierendes geistiges Zentrum der Republik. Schirrmacher beschließt 2002, überhaupt mit seinem ganzen Feuilleton nach Berlin zu ziehen – nein, da hat er’s dann überzogen. Auf einer Redakteursversammlung hagelt es Proteste.

Keine Frage, er hatte einen siebten Sinn für Themen und zugespitzte Thesen. Aber zeigte er auch stets die wünschenswerte Substanz? Frank Schirrmacher polarisierte. Der international anerkannte Ökonom Ernst Kistler sah im „Methusalem“-Autor nur einen „unbedarften Laien“. Peter Glaser schrieb 2009 in der StZ über „Payback“: „Quatsch“. Die Zeitschrift „Merkur“ vermochte 2013 im „Ego“ nur eine Autorenhaltung erkennen, die besagte: „Liebe Leser, ist mir schnuppe, was für einen Dreck ich dir vorsetze.“ Ach ja, und dann war da noch der Fall Walser. Erst ließ Schirrmacher 2002 das neue Buch „Tod eines Kritikers“ von Martin Walser als Vorab-Fortsetzungsroman für die FAZ exklusiv einkaufen. Um dann in großer Empörungsgeste der Welt mitzuteilen, der Roman sei antisemitisch und komme nie und nimmer für sein Feuilleton infrage – ohne dass irgendwo sonst eine Redaktion schon die Möglichkeit gehabt hätte, dieses vernichtende Urteil zu überprüfen. Meinungsführerschaft, Talkshow-Herrschaft über alles?

Nein, Frank Schirrmacher hat weder all diese Themen erfunden noch originär erforscht. Sie wurden von den einen schon früher diskutiert, von anderen dafür später wesentlich gründlicher. Aber wenn es darum ging zu spüren, welches Thema auch für eine breitere Öffentlichkeit in der Luft lag, wo sich im Gewusel und Gewimmel der Neuigkeiten eine größere Debatte versteckte – just dafür hatte Schirrmacher einen Instinkt. Da warf er sein Bild, sein Modell, seine These in die Runde. Und mit einer der beiden führenden nationalen Tageszeitungen als Basis hatte er die publizistische Macht, die Debatte durchzusetzen.

Keine Angst vor großen Fußspuren

Wenn es neben besagtem Instinkt noch eine andere Eigenschaft gab, die ihm half, einer der einflussreichsten deutschen Journalisten zu werden, dann war es diese: Frank Schirrmacher kannte nie die Sorge, in zu große Fußspuren zu treten. Der Sohn aus einem hessischen Beamtenhaushalt ließ sich nach seinem Germanistikstudium 1985 ohne journalistische Vorerfahrung vom Politologen Dolf Sternberger bei der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ als Hospitant empfehlen. Als Marcel Reich-Ranicki 1989 kein Redakteur mehr sein mochte, übernahm Schirrmacher sein Ressort, damals so etwas wie das Zentralkomitee der deutschen Literaturkritik. Und als Joachim Fest, die publizistische Instanz des preußisch-konservativen Großbürgertums in Deutschland, der umstrittene Hitler-Biograf und Alber-Speer-Versteher, 1994 in den Ruhestand ging, da übernahm Schirrmacher keck dessen FAZ-Herausgeberposten.

Was dann folgte, war ein atemberaubender Ausbau des FAZ-Feuilletons, sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht. Just mit seinem Gespür für gesellschaftliche Debatten baute er die Frankfurter Kulturseiten zum Debattenteil aus. Anders als seine Vorgänger und Herausgeberkollegen scherte es ihn wenig, ob ein Autor rechts, links oder mittig war. Hauptsache, der Autor war gut und schrieb für ihn. So, wie es ihn auch nicht scherte, ob nur wenige Seiten zuvor im Politik- oder Wirtschaftsteil auch über dieses oder jenes Thema geschrieben wurde, womöglich mit ganz anderem Zungenschlag. Sein Feuilleton war eine kleine Zeitung, eine kleine Welt für sich. Das reichte. Ja, es gab Jahre – das war damals, so rund um die Jahrtausendwende –, da galt das Feuilleton überhaupt als der wichtigste Teil einer Zeitung. Die Kulturressorts von FAZ und „Süddeutscher“, von „Zeit“ und „Spiegel“ spielten sich die Bälle zu und jagten einander die Edelfedern ab. Hauptsache Betrieb.

Ein Sinn für Themen und Thesen

Frank Schirrmacher lässt am 27. Juni 2000 auf sechs Zeitungsseiten die Schluss-Sequenz des kurz zuvor entschlüsselten menschlichen Genoms dokumentieren. Prompt werden alle Feuilletons zu Wissenschaftsforen. Schirrmacher verkündet am 1. August 2000, sein Blatt mache den Unsinn der Rechtschreibreform nicht mit. Prompt diskutiert ganz Deutschland über die Rechtschreibreform, zehn Jahre lang. Schirrmacher führt vier zusätzliche „Berliner Seiten“ ein. Prompt empfinden alle die neue Hauptstadt als pulsierendes geistiges Zentrum der Republik. Schirrmacher beschließt 2002, überhaupt mit seinem ganzen Feuilleton nach Berlin zu ziehen – nein, da hat er’s dann überzogen. Auf einer Redakteursversammlung hagelt es Proteste.

Keine Frage, er hatte einen siebten Sinn für Themen und zugespitzte Thesen. Aber zeigte er auch stets die wünschenswerte Substanz? Frank Schirrmacher polarisierte. Der international anerkannte Ökonom Ernst Kistler sah im „Methusalem“-Autor nur einen „unbedarften Laien“. Peter Glaser schrieb 2009 in der StZ über „Payback“: „Quatsch“. Die Zeitschrift „Merkur“ vermochte 2013 im „Ego“ nur eine Autorenhaltung erkennen, die besagte: „Liebe Leser, ist mir schnuppe, was für einen Dreck ich dir vorsetze.“ Ach ja, und dann war da noch der Fall Walser. Erst ließ Schirrmacher 2002 das neue Buch „Tod eines Kritikers“ von Martin Walser als Vorab-Fortsetzungsroman für die FAZ exklusiv einkaufen. Um dann in großer Empörungsgeste der Welt mitzuteilen, der Roman sei antisemitisch und komme nie und nimmer für sein Feuilleton infrage – ohne dass irgendwo sonst eine Redaktion schon die Möglichkeit gehabt hätte, dieses vernichtende Urteil zu überprüfen. Meinungsführerschaft, Talkshow-Herrschaft über alles?

Ein Feuilletonist, kein Analytiker

Nein, unumstritten war Frank Schirrmacher ganz sicher nicht. Wie absurd wäre das auch für einen Kulturjournalisten, der an die Bedeutung der öffentlichen Diskurse glaubte? Für einen Feuilletonisten, der überzeugt war, dass die Kultur und der Kulturjournalismus einer Gesellschaft Perspektiven bieten, ohne die diese Gesellschaft nicht nur ärmer, sondern auf mittlere Sicht unproduktiv und auf lange Sicht lebensuntüchtig wird? Das ist der Unterschied: Augstein, Nannen, Dönhoff, Springer verstanden sich natürlich als weit ausgreifende, historisch-politische Analytiker. Schirrmacher sagte: Im Zweifel bin ich Feuilletonist. Aber auch so kann man, wie Bundespräsident Gauck es gestern ausdrückte, „Stimme der Vernunft“ werden.

Am Donnerstag ist Frank Schirrmacher im Alter von 54 Jahren in Frankfurt an den Folgen eines Herzinfarktes gestorben. Man ahnt, ein Schock für die FAZ-Redaktion.