Die Frankfurter Buchmesse findet in diesem Jahr fast nur online statt. Wird sich der Charakter der weltgrößten Bücherschau dauerhaft verändern?

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Würde man einen Schauplatz für eine Netflix-Serie über die Frankfurter Buchmesse suchen, kein Ort wäre dafür geeigneter als Jimmy’s Bar im Hessischen Hof. Hier treffen Mythos und Wirklichkeit des Literaturbetriebs zusammen: Autoren, Verleger, Lektoren, internationale Agenten, Wichtigtuer, die im gediegenen Dunst teurer Spirituosen und dicker Zigarren Geschäfte anbahnen, Geheimtipps austauschen, Karrieren begründen und die Bestseller von übermorgen verticken.

 

Auf solche Szenen wird man in diesem Jahr vermutlich verzichten müssen. Und die Katerstimmung, die schon bevor es los geht über dem weltgrößten Branchentreff liegt, hat einmal nicht mit der Konkurrenz von Netflix-Serien zu tun, die dem Kulturgut Buch Leser abspenstig machen. Sie erklärt sich eher daraus, dass das, was da in dieser Woche beginnt, mit der Frankfurter Buchmesse vergangener Tage nicht mehr viel gemein hat. Und es überaus fraglich ist, ob es jemals wieder wird, wie es einmal war. Buchmesse bedeutet, mit Ken Follett zusammenzurempeln, während man sich nach dem rasch wie ein Silberfuchs vorbeischnürenden Rainald Goetz umblickt. Gerammelt volle Hallen, Menschen, die auf engstem Raum die Köpfe zusammenstecken, rauschende Empfänge und am Ende ein Erschöpfungsshowdown zu Beginn der Grippe-Saison – all das wird es in diesmal nicht geben.

Wozu braucht man überhaupt den Aufwand?

Was am Dienstag von Kulturstaatsministerin Monika Grütters in realer Anwesenheit eröffnet wird, ist ein Ereignis, das ein Virus weitgehend in jenen digitalen Zukunftsraum verbannt hat, der in vergangenen Jahren immer wieder beschworen wurde, gleichwohl dem Prinzip der Veranstaltung zuinnerst widerspricht. Denn dieses Prinzip ist eines der Nähe, der Begegnung, der Präsenz, und es verträgt sich mit dem hygienischen Gebot des Abstandhaltens so wenig wie mit den epidemischen Surrogaten der Streamingkultur.

Lange, womöglich zu lange haben die Verantwortlichen am Plan einer hygienegerecht reduzierten Schrumpfmesse festgehalten. Die weltweiten Reisebeschränkungen und die Vorboten einer zweiten Welle haben diese Hoffnungen weggeschwemmt. Geblieben ist die Eröffnungsfeier vor leeren Rängen und ein umfangreiches Lesungsprogramm für eine begrenzte Teilnehmerzahl an verschiedenen Orten der Stadt. Der Rest wird auf digitale Plattformen ausgelagert. Dort und nicht in Jimmy’s Bar können sich Agenten, Verleger und Literaturscouts begegnen. Mehr als 4000 Aussteller aus 89 Ländern haben sich angemeldet, darunter 800 deutschsprachige Verlage. Die Hallen bleiben leer, wogegen sich der diesjährige Wahlspruch trotzig behauptet: „All together now“. „Wir werden mehr zum Festival“, sagte der Buchmessen-Direktor Juergen Boos. Damit verändert die Messe ihren Charakter. Denn ist der ökonomische Teil erst einmal ins Internet abgewandert, könnte man darüber nachdenken, wofür es den ganzen Aufwand überhaupt noch braucht. Diese Frage stellt sich freilich nicht erst seit Corona. Längst hat sich der Handel mit Lizenzen, der Austausch zwischen Agenten und Verlagen dezentralisiert. Außer als Marktplatz hat sich Frankfurt deshalb immer mehr auch als Forum gesellschaftlicher Debatten verstanden.

Wird Frankfurt zum Lesefest?

Die großen Themen unserer Zeit, Rechtsextremismus, Populismus, Meinungsfreiheit, Klimawandel wurden hier verhandelt. Auch diesmal werden wieder politische Akzente gesetzt. Das Arte-Projekt „Es wird Zeit“ bringt Jung und Alt ins Gespräch über die Zukunft des Planeten. Joshua Wong von der Freiheitsbewegung in Hongkong diskutiert die Konflikte in seiner Heimat. Und wo, wenn nicht hier sollte eine Verständigung darüber stattfinden, wie die Corona-Krise die elementaren Koordinaten unseres Lebens verschoben hat.

Die Koordinaten scheinen sich in diesem Jahr klar in Richtung Leipzig zu verschieben. Denn was die physische Leere in den Hallen kompensiert, ist ein Lesefest, wie es in dieser Form bisher als charakteristisches Unterscheidungsmerkmal des ostdeutschen Gegenstücks im Frühjahr galt. In Leipzig steht das Publikum im Mittelpunkt, in Frankfurt der Buchmarkt, so lautet bisher die Aufgabenverteilung. Für Literatur- und Buchinteressierte mag der Verlust des kommerziellen Unterbaus verschmerzbar sein, von Autoren, schreibenden Promis und Paradiesvögeln, die zur Folklore der Messetage zählen, haben sie sicher mehr als von Rechtehändlern. Doch wegen der streng limitierten Besucherzahl der Liveveranstaltungen wird ein Großteil des Gebotenen seine Adressaten nur über das Netz erreichen. Darin ist man in diesen Tagen ohnehin gefangen.

Jimmy’s Bar ist nur noch eine Legende

Frankfurt hat bisher davon gelebt, einmal im Jahr alle Bereiche der Buchwelt im internationalen Maßstab zusammengeführt zu haben: Geschäft, Glamour, Literatur, Unterhaltung, Politik und Aufklärung – alles. Es wäre traurig, wenn diese Messe zum Probelauf würde, diesen Kosmos in seine Teilsysteme aufzuspalten. „Die Messe wird sich dauerhaft verändern“, sagte Direktor Boos. Auch durch das lange Festhalten am Plan einer Hallenausstellung wird die Messe in diesem Jahr einen Millionenverlust einfahren.

Dann auch noch das: Vor kurzem hat der Hessische Hof bekannt gegeben, wegen coronabedingter Umsatzeinbrüche zum Jahresende schließen zu müssen. Damit geht Jimmy’s Bar endgültig in das Reich der Legende ein. Die Messe darf nicht folgen.