Viele Franzosen und Europäer sind Emmanuel Macron dankbar, dass er sie vor dem Schreckgespenst Marine Le Pen bewahrt hat. Doch auf den Präsidenten kommen stürmische Zeiten zu.

Korrespondenten: Stefan Brändle (brä)

Es war Punkt 20 Uhr am Sonntagabend, als sich die Spannung eines monatelangen, aufreibenden Wahlkampfs entlud. Frenetisch feierten junge Macron-Wählerinnen und -Wähler den Sieg ihres Idols auf dem Pariser Marsfeld. Als der Slogan „nous tous“ (wir alle) auf einer Großleinwand erschien, skandierte die Menge den französischen Sportruf „on a gagné“ – wir haben gewonnen. Frankreich- und Europa-Fahnen schwenkend, wartete sie auf Macron, der sich später am Abend bei seiner Rede demütig zeigte: „Ich weiß, dass viele unserer Mitbürger heute für mich gestimmt haben, um die Ideen der Rechtsextremen zu verhindern und nicht, um die meinen zu unterstützen“, sagte der 44-Jährige am Sonntagabend vor dem Pariser Eiffelturm vor jubelnden Anhängern. „Ich weiß, dass Ihre Stimme mich für die kommenden Jahre verpflichtet.“ Weiter kündigte er für seine kommende Amtszeit einen Umgang mit den Franzosen auf Augenhöhe an. „Wir müssen auch wohlwollend und respektvoll sein. Denn unser Land steckt tief in Zweifeln und Spaltung. Wir müssen stark sein, aber niemand wird am Wegesrand zurückgelassen.“

 

Die Erleichterung der Macron-Anhänger war mit Händen zu greifen. Zum Schluss hatten sie doch noch gezittert: In den Umfragen für den zweiten Wahlgang war die Rechtspopulistin Marine Le Pen dem Amtsinhaber bis auf 48, einmal gar 49 Prozent nahegerückt. Im Pariser Hauptquartier von En Marche erinnerte man sich plötzlich, dass die französischen Wähler amtierende Präsidenten gerne abwählen. So geschehen Nicolas Sarkozy 2012 und auch François Hollande 2017. Macron musste vor dem ersten Wahlgang seine Strategie radikal ändern. Er stieg beherzt in die Niederungen der Politik und griff Le Pen frontal an, statt wie bisher die übrigen Kandidaten bewusst zu ignorieren: Ihr Rassemblement National sei keine Sammlungsbewegung, wie es der Name verheiße, sondern ein Familien-Clan. Am Mittwochabend, im einzigen TV-Duell der beiden Kontrahenten, kritisierte Macron, Le Pen könne nicht Präsidentin eines westlichen Landes werden, wenn sie vom russischen Putin-Lager einen Millionenkredit entgegengenommen habe, der bis heute nicht zurückbezahlt sei.

Anpassung der Taktik

Die neue Offensivtaktik zahlte sich aus, wie das Wahlresultat belegt. Le Pen wurde geschlagen. Eine Mehrheit sah in ihr eine Kandidatin, die nicht das Zeug zur Staatspräsidentin hat. Macron dagegen hat es. Der 44-jährige Absolvent des Pariser Elite-Lyzeums Henri-IV, der Uni Sciences Po und der Verwaltungseliteschule ENA agierte im Fernsehduell agil und schlagfertig. Das mögen Franzosen an ihm: Er hat zu allem etwas zu sagen, und er sagt es mit Stil.

Auf diese Art meisterte Macron unter anderem bereits die Gelbwestenkrise, die sein Land 2019 bedrohte. In einem Vor-Ort-Termin in der Normandie sprach er damals einmal sieben geschlagene Stunden am Stück. Nur seine Weste zog er dabei aus und trank einen Schluck Wasser – sonst sprach er ohne Pause. Und nur er. Die Zuhörer, beeindruckt oder erschlagen von dem Redefluss, hörten nur noch staunend zu. Die Zeitung „Le Monde“ kommentierte später, Macron sei ein „Casanova der Politik“, der jedes Publikum zu charmieren und überzeugen verstehe. Mit der nationalen Gesprächstherapie seines „Grand débat“ (große Debatte) befriedete er die Nation und die Gelbwesten.

Überfällige Rentenreform

Allerdings: Die damaligen Ankündigungen waren rasch vergessen. So wie auch die Wahlversprechen seiner ersten Kampagne von 2017. Das wichtigste Versprechen, eine überfällige Rentenreform, hat er bis heute nicht durchgebracht. Die Einführung des Verhältniswahlrechts: auch nicht. Und die 15 000 neuen Gefängnisplätze? Auf die lange Bank geschoben. Der Abbau von 50 000 Beamtenstellen? Während Macrons Amtszeit entstanden Zehntausende neuer Posten in der Verwaltung. Einsparungen von 60 Milliarden Euro im Staatshaushalt? Im Gegenteil: 190 Milliarden Zusatzausgaben. Und längst nicht nur coronabedingt, wie Macron behauptet.

Geschafft hat der Präsident dagegen eine schwierige Arbeitsmarktreform, die Lehrstellen schaffte und Kündigungen erleichterte. Der Rückgang der Arbeitslosigkeit auf 7,4 Prozent geht teilweise darauf zurück. Die Grundlage dafür hatte allerdings Hollande schon vor Macrons Amtsantritt 2017 gelegt. Von einer „Révolution“, die Macron 2017 in einem Wahlkampfbuch versprochen hatte, war in seiner ersten Amtszeit jedenfalls nicht viel zu spüren. Für sein Fünf-Jahres-Mandat machte Macron vor allem soziale, das heißt finanzielle Versprechen. Daher schnellte die Staatsschuld hoch.

Geballte Front aus linken und rechten Kräften

An Strukturreformen plant der wiedergewählte Staatschef nur noch die Erhöhung des Rentenalters von 62 auf 65 Jahre. Doch Macron zweifelt offenbar selbst, dass es beim zweiten Anlauf klappen wird: Schon vor dem Wahlfinale sprach er von der Möglichkeit, das Rentenalter nur auf 64 Jahre zu erhöhen; das restliche Jahr soll erst nach 2027 eingeführt werden. Da Macron verfassungsbedingt kein drittes Mal kandidieren kann, bedeutet das, dass er das heiße Thema zum Teil an seinen Nachfolger weiterreicht.

Denn auch Macron sieht: Die Wahlurnen sind noch nicht verräumt, da entsteht schon eine geballte Front aus linken und rechten Kräften gegen die „Mutter aller Reformen“, wie man die Pensionsfrage in Frankreich nennt. Die „Unbeugsamen“ des linken Volkstribuns Jean-Luc Mélenchon und die Le-Pen-Anhänger werden in Macrons zweiter Amtszeit die eigentliche Opposition bilden. Eine harte, radikale, vielleicht auch gewalttätige Opposition. Die gemäßigten Altparteien – die konservativen Republikaner und die Sozialisten – sind im Präsidentschaftswahlkampf mit 4,8 und 1,7 Prozent der Stimmen fast ausgelöscht worden. Das ist unter anderem Macrons Werk: Seit 2017 hatte er ihnen systematisch die Themen und die Spitzenvertreter abgeluchst.

Frankreich steht vor einem weiteren politischen Beben

Schon während der Wahlen wurde indessen klar, dass sich Macron damit selber ein Problem geschaffen hat. Hinter den Republikanern kamen die Lepenisten auf, hinter den Sozialisten die „Unbeugsamen“. Sie werden Macron, den sie den „Präsidenten der Reichen“ nennen, keine Ruhe lassen. Man braucht kein Hellseher zu sein, um vorherzusagen: Das durch schwere Krisen des ersten Macron-Mandats bereits stark erschütterte Frankreich steht vor weiteren politischen Beben. Macron hat die Wahl. Entweder legt er die Hände in den Schoß und hält sich zurück. Doch es fällt schwer, sich den hyperaktiven Macron als „lame duck“, als lahme Ente einer zweiten Amtszeit, vorzustellen. Oder aber Macron versucht sich doch noch an seinen Reformen. Dann wird es um den zivilen Frieden im Land bald geschehen sein.

Denn Macron ist in seiner ersten Amtszeit zu einer Hassfigur für Links- und Rechtsaußen geworden. Er gibt diesen Ressentiments mit seinen saloppen Sprüchen auch noch reichlich Nahrung. Genau wie mit seinen Allmachtansprüchen. „Jupiter“, wie er sich einmal selbst nannte, duldet im Olymp des Élysée-Palastes keine Partner neben sich, nur Ausführende seines Willens. Die Verfassung der Fünften Republik beruhe nun einmal auf dem Prinzip der „Vertikalität“, dozierte er.

Verlängerung der Amtszeit des Staatschefs?

In einem wenig beachteten Wahlinterview spielte Macron unlängst gar mit der Idee, die fünfjährige Amtszeit des Staatschefs auf sieben Jahre zu verlängern. Mit Gültigkeit schon für ihn selbst? Politische Gegner wie der „unbeugsame“ Anwalt Juan Branco verdächtigen ihn jedenfalls, er wolle damit die verfassungsmäßige Obergrenze von zwei Mandaten sprengen – wie dies ein gewisser Wladimir Putin vorgemacht habe. Seither schweigt Macron zu seinem Versuchsballon. Die Animositäten, auf die er im ganzen Land stößt, werden dadurch aber zusätzlich angeheizt.

Vielleicht interessiert sich Macron auch deshalb so stark für die Weltpolitik. Mit Diplomaten kann Macron besser umgehen als mit dem Volk, in dem einige „nichts sind“, wie er einmal abfällig erklärte. Bei seinem Duzfeind Putin beißt Macron aber auf Granit: Zwanzigmal hat er seit Beginn der Ukraine-Invasion mit Russlands Präsident telefoniert – erreicht hat er nichts.

Erfolg hatte er dagegen dort, wo seine Überzeugungen liegen: in Europa. Seine Sorbonne-Rede vom Herbst 2017 schrieb Geschichte. Mit Folgen: Macron überredete erstmals „les amis allemands“, die deutschen Freunde, zu einer gemeinsamen Schuldenaufnahme. 750 Milliarden Euro flossen davon in den Corona-Wiederaufbaufonds. Noch unter Kanzlerin Angela Merkel, aber auch danach war der wendige Franzosen den Deutschen oft einen Schritt voraus. Frankreich, nach dem Brexit die einzig verbliebene Nuklearmacht der EU und auch das einzige permanente Mitglied des UN-Sicherheitsrats, gibt in Brüssel heute den Ton vor.

In Paris aber hat er seine Herausfordererin weiterhin im Nacken sitzen. Der Wahlsieger ist in seinem Palast – politisch gesprochen – einsamer denn je.

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