Franziskus hat erstmals einer deutschen Zeitung ein Interview gegeben. Darin bekennt er: Es gebe auch Glaubenskrisen in seinem Leben. Und er sei ein Sünder und fehlbar. Und was ist mit der päpstlichen Unfehlbarkeit?

Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

Rom - „Ich bin Sünder und bin fehlbar!“ Diesen Satz hat Papst Franziskus im Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit“ gesagt. Für sich genommen klingen diese sechs Wörter in ihrer verbalen Kürze und rhetorischen Würze spektakulär, ja fast schon revolutionär. War da nicht was mit der Unfehlbarkeit?Ist der Papst nach katholischer Lehre nicht unfehlbar? Schleift Franziskus mit dieser Aussage eine der letzten originär katholischen Bastionen?

 

Der Chefredakteur der „Zeit“, Giovanni di Lorenzo, traf das Kirchenoberhaupt im Gästehaus Santa Marta im Vatikan. Das auf Italienisch geführte Gespräch wurde laut Wochenzeitung vom Papst selbst autorisiert. Er habe weniger am Wortlaut verändert als die meisten Politiker, die der „Zeit“ ein Interview geben, so die Redaktion.

„Ich bin Sünder und bin fehlbar!“

„Ich bin Sünder und bin fehlbar!“ Diesem Satz wird jeder (Katholik) uneingeschränkt zustimmen. Jeder Mensch ist Sünder und damit fehlbar – außer Maria, die gemäß dem katholischen Dogma der Unbefleckten Empfängnis vom ersten Augenblick ihres Lebens an vor jedem Makel der Erbsünde bewahrt wurde, weil sie zur Mutter des Gottessohnes bestimmt war. Auch Jorge Mario Bergoglio ist keine Ausnahme von dieser Regel.

Franziskus hat mit diesem Satz seine eigene, ganz persönliche Fehlbarkeit eingeräumt. Er als Mensch fehlt, versagt, versündigt sich. Dass die Redaktion der „Zeit“ diesen Satz wie der Verdurstende die Wasserpfütze aufsaugt und zusammen mit dem Konterfei des Papstes in fetten Buchstaben auf den Titel ihrer aktuellen Ausgabe knallt, ist nachvollziehbar. Schließlich ist es das erste Interview, das das 266. Oberhaupt der katholischen Kirche einer deutschen Zeitung gibt. Auf einen solchen medialen Knalleffekt kann kein Journalist verzichten.

„Ich sehe mich nicht als etwas Besonderes“

Er erlebe sich selbst als „ganz normalen Gläubigen“, erklärt Franziskus. Seine persönliche Normalität betont der 80-Jährige immer wieder. Oberhaupt von mehr als 1,27 Milliarden Katholiken zu sein, ist eine Bürde und Verantwortung, die weder Egozentrik noch Narzissmus verträgt. Franziskus ist – das sind seine sympathischsten Eigenschaften – herzerfrischend, offenherzig und unverkrampft.

Und weiter sagt er im Interview: „Ich sehe mich nicht als etwas Besonderes. Ich finde eher, dieses Bild wird mir nicht gerecht, es ist übertrieben.“ Ein „ganz normaler Mensch“ sei, er, „der tut, was er kann“. Jede Art von Papst-Kult sei ihm zuwider. „Wir dürfen nicht vergessen, dass die Idealisierung eines Menschen stets auch eine unterschwellige Art der Aggression ist. Wenn ich idealisiert werde, fühle ich mich angegriffen.“

Päpstliche Duftmarken

Ein Papst mit Charme und Humor

Wie jeder seiner Vorgänger auf dem Stuhl Petri will auch Franziskus seine persönlichen Duftmarken in der Kirchengeschichte hinterlassen. Man kauft es ihm ab, dass er etwas in der Kirche und für die Menschen bewegen will. Dafür geht er für einen Pontifex ungewöhnliche Wege. Ein flotter Spruch, eine amüsante Anekdote – Franziskus ist für seinen Humor und seine Offenheit bekannt.

Die Bürde des Amtes scheint nicht so schwer auf ihm zu lasten, dass er darüber Menschlichkeit und Spontaneität vergessen würde. Und das ist gut so! Das macht ihn zu einem außergewöhnlichen Menschen und zu einem ungewöhnlichen Papst.

Stachel im Fleisch der Konservativen

Wer diesen franziskanischen Satz „Ich bin Sünder und bin fehlbar!“ falsch verstehen will, wird dies auch tun. Die Konservativen, denen Franziskus mit jedem weiteren reformerischen Vorstoß ein immer größer werdender Stachel im Fleisch ist, werden schäumen angesichts dieser Worte, die für sie weitere pontifikale Verbalinjurien darstellen.

Im „Codex Iuris Canonici“, dem Kodex des kanonischen Rechtes und Gesetzbuch der römisch-katholischen Kirche, steht wie in Stein gemeißelt in Canon 759, Paragraf 1 folgender Satz: „Unfehlbarkeit im Lehramt besitzt kraft seines Amtes der Papst, wann immer er als oberster Hirt und Lehrer aller Gläubigen, dessen Aufgabe es ist, seine Brüder im Glauben zu stärken, eine Glaubens- oder Sittenlehre definitiv als verpflichtend verkündet.“

Die Lehre von der päpstlichen Unfehlbarkeit war theologisch hochumstritten, als sie auf dem Ersten Vatikanischen Konzil 1870/71 von Pius IX. zum kirchlichen Dogma erhoben wurde. Und sie ist es bis heute. Man denke nur an die epochale Aufregung um Hans Küngs Streitschrift „Unfehlbar? Eine Anfrage“ aus dem Jahre 1970, in dem der Tübinger Theologe das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit radikal in Frage stellt und als diktatorischen Irrweg ablehnt.

Fehlbar als Mensch, unfehlbar als Papst

„Unfehlbar?“

In der katholischen Kirche ist die Unfehlbarkeit des Papstes (die sogenannte Infallibilität, vom lateinischen Wort „infallibilitas“) eine Eigenschaft, die dem Bischof von Rom qua Amt zukommt, wenn er in diesem Amt als „Lehrer aller Christen“ („ex cathedra“) eine Glaubens- oder Sittenfrage als endgültig entschieden verkündet. Aber nur dann!

Die „infallibilitas pontificalis“ – das Unfehlbarkeitsdogma – stellt Franziskus in dem Interview mit keinem Wort in frage. Der Satz „Ich bin Sünder und bin fehlbar“ kann den Konservativen deshalb auch nicht als Steilvorlage dienen.

Im Übrigen: Das Zweite Vatikanische Konzil, das von 1962 bis 1965 das I. Vaticanum lehramtlich fortführte und vollendete, spricht auch der Gesamtheit der Gläubigen Unfehlbarkeit zu: „Die Gesamtheit der Gläubigen, welche die Salbung von dem Heiligen haben, kann im Glauben nicht irren.“

Franziskus, der Teamplayer

Dieser Satz ist sozusagen des Pudels Kern von Franziskus’ Pontifikat. Franziskus sieht sich nicht als einsamer Gralshüter des wahren Glaubens, sondern als Teamplayer. Gemeinsam mit allen Christenmenschen – ob katholisch, evangelisch, orthodox, anglikanisch oder freikirchlich – will er die christliche Botschaft der Welt verkünden. Für ihn bedeutet katholisch zu sein die „Catholica“ im ureigensten Sinne: universell, weltumspannend, ökumenisch, gemeinschaftlich. Autoritarismus, Klerikalismus und Zentralismus, wie ihn Pius XII. und Johannes Paul II. verkörperten, lehnt er kategorisch ab.

Genau aus diesem Grund bläst ihm eisiger Gegenwind ins Gesicht. Im Kardinalskollegium und Episkopat gärt es unter den Konservativen schon lange. Vom ersten Tag seines Pontifikats an – die Papstwahl war am 13. März 2013 – hat Franziskus die Kirche mit seiner spontanen Art und Rede auf den Kopf gestellt. Die Eisen, die er anpackt, sind so heiß, dass sich jeder andere Amtsinhaber schon längst die pontifikalen Finger daran verbrannt hätte. Nicht so Franziskus. Er bricht Tabuthemen auf – wie die Frage der wiederverheiratete Geschiedenen, des Diakonats der Frau – und der priesterlichen Ehelosigkeit.

Was wird aus dem Zölibat?

„Der freiwillige Zölibat ist keine Lösung“

Auf die Frage der „Zeit“, ob verheiratete, erprobte Männer – sogenannte „Viri probati“ – unter bestimmten Bedingungen Priester werden sollten, antwortet Franziskus: Es gehe „der Kirche stets darum, den richtigen Augenblick zu erkennen, wann der Heilige Geist nach etwas verlangt“. Und: „Wir müssen darüber nachdenken, ob ‚Viri probati‘ eine Möglichkeit sind. Dann müssen wir auch bestimmen, welche Aufgaben sie übernehmen können, zum Beispiel in weit entlegenen Gemeinden.“

Auch wenn er sich gegen den Vorschlag, die Ehelosigkeit der Priester einer freien Entscheidung der Kandidaten zu überlassen, wendet („Der freiwillige Zölibat ist keine Lösung“) sind diese, von höchster Stelle deklamierten Worte ein kirchlicher Quantensprung. Jeder andere Papst hätte sich eher die Zunge abgebissen, als sich so weit aus dem Fenster zu lehnen.

„Das war großartig!“

Und was macht Franziskus: Er spricht offen aus, was er denkt. Er diskutiert, auch wenn dies Gegenreden provoziert. Was er über die kritische Plakataktion gegen ihn denke, wird er gefragt (im Februar hatten Unbekannte in Rom Plakate in römischem Dialekt aufgehängt und Franziskus darauf scharf kritisiert). Schlemisch antwortet er: „Das war großartig!“

Franziskus wendet sich gegen alle Denk-, Rede- und Schreibverbote, gegen Schweigebuße und Zensur. Ein „Index Librorum Prohibitorum“ – das Verzeichnis der verbotenen Bücher, welches über 400 Jahre in der katholischen Kirche üblich war – ist unter Franziskus’ Ägide unvorstellbar.

Zur Info: Noch im Jahr 1985 erteilte der Vatikan – in Gestalt des damaligen Präfekten der Glaubenskongregation Joseph Ratzinger, dem emeritierten Papst Benedikt XVI. – dem lateinamerikanischen Befreiungstheologen Leonardo Boff ein einjähriges Rede- und Lehrverbot, durch das dieser weltweit bekannt wurde.

„Freier Herr über alle Dinge“

„Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan.“ Diesen Satz Martin Luthers würde Franziskus ohne mit der Wimper zu zucken unterschreiben. Und ganz Katholik würde er hinzufügen: außer seinem Gewissen und Gott!