Ob in Paris oder der Provinz – jedes Jahr machen in Frankreich Hunderte von Cafés dicht.

Korrespondenten: Stefan Brändle (brä)

Paris - Leben, lachen und essen – dieser Devise folgt Le petit Opportun im Zentrum von Paris seit Jahrzehnten. Es ist Mittag, die Wirtin Véronique schlängelt sich zwischen den winzigen Tischchen durch, zwei Teller mit Hering und Blutwurst über ihrem Kopf balancierend. Das Bistro, das noch aus der Zeit des historischen Frischmarkts Les Halles stammt, ist auf den letzten Platz gefüllt. An der Bar warten die einen mit dem Apéro in der Hand, die anderen schlucken noch einen Petit noir, einen Espresso.

 

Nur 28 000 von 200 000 Kneipen haben überlebt

„Schade, ist die heutige Messe schon vorbei“, kommentiert dazu ein Angestellter der gegenüberliegenden Post ganz unchristlich. Mit gleichem Bedauern erzählt er auf eine entsprechende Frage, Le petit Opportun sei eines von wenigen verbliebenen Bistros in dem Pariser Viertel. Fast alle anderen hätten in den letzten Jahren geschlossen.

Das Viertel um Les Halles ist kein Einzelfall: Von den einst 200 000 französischen Kneipen und Schenken – das russische Wort bistro für schnell wurde offenbar von Arbeitern aus dem Osten eingeführt – haben bis heute nur rund 28 000 überlebt. Diese noch inoffizielle Zahl für 2017 nennt Bernard Boutboul vom Branchenbüro Giraconseil. „Für zwei Bistros, Cafés und Schnellimbisse, die in Frankreich eröffnen, schließen drei.“ Unter dem Strich haben seinen Angaben zufolge im vergangenen Jahr rund 500 Bistros den Betrieb ganz eingestellt.

Die Gründe für diesen Aderlass sind nicht weit zu suchen. Am stärksten ist das Bistro-Sterben im Norden und Osten Frankreichs sowie der Bretagne, wo die Wirtschaftslage am schlechtesten ist. Da man als Wirt kein Diplom brauche, versuchten es viele arbeitslose Ehepaare. Er in der Küche oder hinter der Bar, sie als Kellnerin, wie Boutboul weiß. Die Abgaben, Steuern und anderen Rechnungen würden aber meist unterschätzt.

Die Bar-Tabacs sind besonders hart betroffen

Als Frankreich vor zehn Jahren die Mehrwertsteuer in Restaurants von 19,6 auf 5,5 Prozent gesenkt habe, seien neue Bistros entstanden. Jetzt, da die Steuer wieder auf zehn Prozent erhöht worden sei, kämen unerfahrene Wirte nicht mehr mit. Dazu kommt laut Boutboul der gesellschaftliche Wandel. Die Apéro-Kultur und der Pastis nach Feierabend passten nicht mehr in die heutige Zeit.

Soziale Kontakte pflege man über Facebook und andere soziale Netzwerke. Ausländische Ketten wie Starbucks zögen die Jugend stärker an. Hart betroffen sind gerade die Bar-Tabacs, die auch Zigaretten, Lottoscheine oder Pferdewetten verkaufen: Deren rote Rübe mit der Aufschrift Tabac verschwinden in Frankreich immer mehr aus dem Straßenbild.

Wirtschaftszweig mit 50 000 Beschäftigten

Was tun, um einen Wirtschaftszweig zu erhalten, der circa 50 000 Personen beschäftigt und einen Umsatz von sechs Milliarden Euro erzielt? Zum einen versuchen die Bistro-Wirte wieder einfache und kostengünstige Mahlzeiten anzubieten. Ferner versuchen sie, mit Philosophie-Cafés, Modetreffs oder Filmclubs neue Kunden anzuziehen. Oder sich sonst wie zu spezialisieren. In Paris gibt es einen Kiez für Liebhaber deutschen Biers, Bagel-Corner im jüdischen Marais-Viertel oder das bekannte Bistro Abri des Japaners Katsuaki Okiyama.

Das Problem ist allerdings weniger Paris, wo es an Einwohnern und Touristen nicht mangelt. Dramatisch ist das Bistro-Sterben auf dem Land. Dort leeren sich die Zentren kleiner Provinzstädte immer mehr. An die 20 000 der 36 000 Dörfer Frankreichs weisen keine einzige Kneipe mehr auf. Die Soziologin Josette Halégoi erzählt in ihrem Buch „Une vie de zinc“ („Ein Schanktischleben“), das Bistro diene oft als „Ausbruchsmöglichkeit aus extremer Einsamkeit“ oder gar als sozialer Blitzableiter. Ein Kunde habe zu ihr gesagt: „Ich geh in die Bar, sonst erwürg ich noch meine Frau.“

Mit dem Bistro kommt Leben ins Dorf

Die Soziologin berichtet von Versuchen, die Bistros als Treffpunkte der Landbevölkerung zu erhalten. Im Loiretal liefert die Auberge de Pinay älteren Leuten die Suppe ins Haus. Im Normandie-Örtchen Courdimanche hat die einzige Bar namens La Renaissance auch Postdienste übernommen. Im kargen, armen Zentralmassiv haben einzelne Orte im Zuge der Abwanderung sämtliche Restaurants und Bistros verloren.

In Royère-de-Vassivière verwandelten verbliebene Jugendliche schon 2002 ein ehemaliges Hotel in ein Bistro. Dazu kam bald eine kleine Bierbrauerei. Heute bietet L’Atelier auch einen Laden mit Regionalprodukten, liefert Bier in die Umgebung, bietet zwei Computerplätze und organisiert kulturelle Anlässe. Alles dreht sich aber um den Barbetrieb am Tresen. Der ist so beliebt, dass die Öffnungszeit über Mitternacht hinaus verlängert wurde. Dank ihm kehrt langsam wieder Leben in das abgelegene Bergdorf.