Der Eindruck, dass die deutsche Politik weiblicher wird, stimmt nur auf den ersten Blick – und noch immer kämpfen Frauen gegen Rollenklischees an.

Berlin - Ruanda – echt jetzt? Das kleine afrikanische Land ist ganz bestimmt keine lupenreine Demokratie. Aber eines hat der kleine ostafrikanische Staat besser hingekriegt als alle anderen – weltweit. Im Unterhaus von Ruanda sitzen viel mehr Frauen als Männer. Der Frauenanteil im Parlament liegt bei 63,8 Prozent. Man muss in dieser Tabelle ziemlich weit nach unten schauen, um irgendwann auf Deutschland zu stoßen, genau 44 Plätze weiter unten. Hierzulande sind 30,9 Prozent der Bundestagsabgeordneten Frauen.

 

Aber der deutsche Trend ist doch wenigstens weiblich. Jedenfalls drängt sich dieser Eindruck mächtig auf. Nicht nur, weil Deutschland von einer Frau regiert wird. Obwohl das immerhin keine Kleinigkeit ist: Derzeit gibt es weltweit nur in neun weiteren Ländern Amtskolleginnen von Angela Merkel: In Großbritannien, Myanmar, Norwegen, Namibia, Serbien, Hong Kong, Neuseeland, Island und Rumänien. Aber neben Merkel rücken immer mehr politisch starke Frauen in den Vordergrund. Gerade wurde Annegret Kramp-Karrenbauer zur Generalsekretärin der CDU gewählt. Andrea Nahles wird wohl demnächst zur ersten weiblichen Vorsitzenden in der weit über 100-jährigen Geschichte der SPD gekürt. Mit Ursula von der Leyen, Julia Klöckner und Anja Karliczek hat die Kanzlerin die Hälfte der von der CDU bestimmten Kabinettsposten einer kommenden großen Koalition an Frauen vergeben. Bei der Linkspartei und den Grünen steht ohnehin immer mindestens eine Frau an der Spitze der Partei: derzeit Katja Kipping (Linke) und Annalena Baerbock (Grüne). So weiblich war die deutsche Politik noch nie.

Blick ins politische Schaufenster trügt

Ist das wirklich ein Trend? Was sich beim Blick ins politische Schaufenster, also beim Spitzenpersonal, beobachten lässt, spiegelt sich im Parlament so durchaus nicht wieder. Im Gegenteil. Der im September gewählte Deutsche Bundestag hat einen Frauenanteil, der erheblich unter dem seines Vorgängers liegt. In der vergangenen Wahlperiode waren noch 36,3 Prozent der Mandatsträger weiblich, nun ist der Anteil um 5,4 Prozentpunkte gesunken. Derzeit sind von 709 Abgeordneten 219 Frauen. Das liegt vor allem daran, dass mit der AfD und der FDP zwei Fraktionen neu ins Parlament gekommen sind, die einen geringeren Frauenanteil haben. Sie kommen zusammen auf 145 Männer und nur 29 Frauen. Mit nur 10,6 Prozent ist der Frauenanteil nirgendwo so gering wie bei der AfD. Bei den Liberalen liegt er bei 22,5 Prozent. Noch geringer ist der Unionsfraktion mit 20 Prozent. Besser schneiden die Parteien des Mitte-Links-Spektrums ab. Die SPD-Fraktion kommt auf 42 Prozent weibliche Abgeordnete. Linke (54 Prozent) und Grüne (58 Prozent) stellen sogar mehr Frauen als Männer. Insgesamt aber hat es seit der Bundestagswahl 1994 nie mehr einen niedrigeren Frauenanteil als heute gegeben.

Der „richtige“ Maßstab

Was macht man mit diesem Befund? Man kann versuchen, ihn umgehend in ein Argument für eine aktivere Frauenförderungspolitik ummünzen. So forderten Frauenverbände gleich nach der Wahl ein „Paritätsgesetz“, um den Anteil von Frauen im Bundestag zu erhöhen. Oder man kann versuchen, die aktuellen Zahlen richtig einzuordnen. Was aber ist „richtig“? Welches Kriterium ist geeignet, um nachzuprüfen, ob hier wirklich etwas gewaltig schief läuft? Es lässt sich zum Beispiel fragen, ob Frauen in ihren Bundestagfraktionen im Vergleich zum Anteil an der Mitgliedschaft der Partei wirklich unterrepräsentiert sind.

Der überraschende Befund: Nein, das sind sie keineswegs. Frauen, die etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung stellen, sind in der Mitgliedschaft aller Parteien nicht entsprechend vertreten. In der CSU stellen sie ein Fünftel, in der CDU ein gutes Viertel, in der SPD ein knappes Drittel der Mitglieder. In der AfD gibt es 16 Prozent Frauen, bei den Liberalen 23 Prozent, in der Linkspartei 37 und bei den Grünen 39 Prozent Frauen. Vergleicht man nun den Frauenanteil in der Partei mit dem Verhältnis in der Bundestagsfraktion, fällt auf: bei Grünen, Linken und der SPD sind die Frauen in den Fraktionen sogar überrepräsentiert. Bei Union und vor allem der FDP wird der Anteil in der Mitgliedschaft ganz gut abgebildet, die AfD unterschreitet in der Fraktion sogar noch den schwachen Frauenanteil in der Partei. Insgesamt aber lässt sich bei dem angelegten Maßstab sicher nicht von einer Benachteiligung sprechen.

Spitzenfrauen als Zugfaktor

Aber „von einer Überrepräsentanz kann auch keine Rede sein“, sagt Karin Maag. Die Stuttgarter CDU-Abgeordnete ist Vorsitzende der Frauengruppe ihrer Fraktion. Sie weist auf den „Zugfaktor“ von Spitzenfrauen hin: „Wir können mehr Frauen für eine aktive Rolle in der Politik begeistern, wenn dort auch Frauen sichtbar in Funktionen und Mandaten sind.“ Ihr Argument: Seit Angela Merkel Kanzlerin ist, wählen Frauen mehrheitlich CDU.“

Dann hat die SPD ja alles richtig gemacht, nun Andrea Nahles an die Spitze der Partei zu befördern. Wobei auch ihr Fall ein Muster deutlich werden lässt: Die Stärke der Trümmerfrauen. Ob nun Nahles in der SPD, ob seinerzeit Angela Merkel in der CDU oder etwa Großbritanniens Regierungschefin Theresa May. Alle drei konnten sich eine starke Stellung erkämpfen, nachdem die Platzhirsche erheblichen Flurschaden angerichtet haben: vom Wahldesaster des Martin Schulz über die von Helmut Kohls Spendenaffäre ausgelöste Vertrauenskrise der CDU bis zum völlig falsch gelaufenen Brexit-Referendum des David Cameron.

Annegret Kramp-Karrenbauer, das neue Kraftzentrum der CDU, macht da eigentlich auch keine Ausnahme. Auch sie muss in gewisser Weise einen ganz neuen Anfang setzen. Eine tatsächliche Ausnahme ist da eher Alice Weidel, die Co-Fraktionschefin der AfD. Sie spielt in der jungen Partei eher noch die Rolle, die in den 50-er und 60-er Jahren den Frauen in den Volksparteien zugedacht gewesen war: Sie soll durch Medienpräsenz die frauenpolitische Dürftigkeit der AfD überdecken.

Ein „Ventil älterer Männer“

Dass starke Frauen in der Politik anscheinend für manche Männer noch immer gewöhnungsbedürftig sind, zeigen die seltsamen Rollenklischees, mit denen sie noch immer konfrontiert werden. So scheint für manche Männer in der Union die Merkelsche Dominanz nur dann erträglich zu sein, wenn man(n) die machtbewusste Politikerin peinlicherweise zur „Mutti“ verniedlicht. Dieses Verkleinern, Verniedlichung, Verharmlosen hat in anderer Form auch Manuela Schwesig (SPD), die Ministerpräsidentin Mecklenburg-Vorpommerns erfahren. Sie musste sich vom Unionsvorsitzenden der Landes-CDU, Lorenz Caffier, als „Küsten-Barbie“ beschimpfen lassen, als Püppchen mithin. Ein ferner Nachklang der Beschreibung, die man einst der Ministerin Angela Merkel angedeihen ließ: „Kohls Mädchen“. Manuela Schwesig nennt das „ein Ventil, weil manche ältere Männer nicht damit klarkommen, dass junge Frauen es in der Politik schaffen.“

Diese komplexbeladenen Reaktionen sind keineswegs längst zurückliegende Erinnerung an eine voremanzipatorische Zeit. Sie sind ziemlich gegenwärtig. Als sich am Ende des CDU-Parteitag in dieser Woche in Berlin Angela Merkel, Ursula von der Leyen, Julia Klöckner und Annegret Kramp-Karrenbauer zusammen vom Saal feiern ließen, sorgte das für einige schöne Fotos. Die altehrwürdig FAZ druckte das Bild auf ihrer Titelseite mit der ranzigen Unterschrift: „Weil ich ein Mädchen bin...“