Die Mehrheit der indischen Frauen lebt auf dem Land und wird dort oft noch als Ware behandelt. Die Opfer häufig verübter sexueller Gewalt werden danach auch noch geächtet. Sogar die Gerichte stellen die Männer über die Frauen

Katna - Die Prüfung in der Schule hatte Shoba Das verpatzt. Auf die bevorstehende Standpauke der Eltern verspürte die hinduistische Schülerin wenig Lust. Die rosige Zukunft, die ihr der zwei Jahre ältere muslimische Freund Wazir Sheikh ausmalte, klang dagegen verlockend. „Er versprach, mir die Welt zu zeigen“, erzählt die heute 15 Jahre alte Shuba Das in dem einfachen, einstöckigen Haus ihrer Eltern am Stadtrand von Berampur, einem kleinen Städtchen nahe der indischen Grenze zu Bangladesch. Das lebhafte Mädchen büxte wie viele experimentierfreudige Teenager in aller Welt aus, bei denen Abenteuerlust Vernunft verdrängt. Aber die Romanze von Shoba Das verwandelte sich schnell in einen Albtraum.

 

Ihr Freund Wazir Sheikh kaufte mit dem Geld und dem Einverständnis seiner Eltern Zugtickets für die Reise von Berampur über Kalkutta in die indische Wirtschaftsmetropole Bombay. Dann ging die Fahrt weiter nach Delhi. Shoba musste ihr Gesicht hinter einem Schleier verstecken. In der indischen Hauptstadt durfte sie das Haus von Verwandten ihres Freundes nicht verlassen. Als sie protestierte, waren die Folgen brutal: drei dunkle Flecken auf der Innenseite ihres linken Unterarms – Narben der Wunden, die ihr Verlobter Wazir mit brennenden Zigaretten in ihr Fleisch brannte.

Nicht nur die allgegenwärtige Gewalt hängt wie ein Joch über dem Leben der Frauen im 1,2 Milliarden Einwohner zählenden Indien. Die Opfer werden zusätzlich ausgegrenzt. Obwohl sich der Staat als säkular und demokratisch definiert, wird die weibliche Bevölkerung zum Teil noch immer als zweitklassig angesehen. Die Gesetzgebung bewertet Frauen nicht als unabhängig, sondern als Personen, die der Familie oder dem Mann unterstehen. Die Folgen: alle drei Minuten wird in Indien eine Straftat an einer Frau begangen. Alle neun Minuten wird eine Frau von ihrem Ehemann oder Verwandten gequält.

Shoba Das hatte schnell genug von ihrem Abenteuer. Dennoch musste sie nach der Zugtour quer durch Indien noch ein Vierteljahr als Gefangene in einem Nachbardorf ihres Heimatorts Berampur ausharren. Schließlich gelang es dem Mädchen mit Hilfe von Nachbarn ihren Vater, einen Bankangestellten, zu benachrichtigen. Drei Tage später befreite die Polizei Shoba Das. Die junge Frau müsste ihren Eltern, die einer Familie von Dalits (Unberührbaren) entstammen, auf Knien danken, dass sie sich über alle indischen Konventionen von Sitte und Moral hinwegsetzen. „Der Junge und seine Eltern haben darauf spekuliert, dass wir sie nicht zurückhaben wollten“, glaubt die Mutter Porani Das, die seit der Heimkehr von Shoba streng über ihre Tochter wacht, „denn normalerweise ist keine Familie bereit, ein Mädchen wieder aufzunehmen, das auch nur eine Nacht lang weggeblieben ist“.