Wenn das Leben zu früh beginnt: Im Frauen-Kind-Zentrum Ludwigsburg erlebt eine junge Familie, wie winziges Leben unter größten Herausforderungen wächst – und wie wichtig es ist, sich in der emotionalsten Zeit gut betreut zu fühlen.

Ludwigsburg : Anna-Sophie Kächele (ask)

Als ihre Fruchtblase platzt, ist Marlene Burkhardt in der 27. Schwangerschaftswoche – fast genau drei Monate vor dem errechneten Geburtstermin ihrer Zwillinge. Seit Wochen hat sie sich geschont und sich die Wartezeit mit Kreuzworträtseln, Zeitschriften und Besuch vertrieben. In der Hoffnung, dass ihre zwei Söhne zumindest bis April weiter in ihrem Bauch wachsen. „Wir waren noch gar nicht vorbereitet, wir hatten nichts gepackt“, sagt die 28-Jährige heute, mehr als zehn Wochen nach der Geburt. Ihre Tage verbringt sie seit Anfang Februar im Frauen-Kind-Zentrum in Ludwigsburg bei ihren Söhnen. Die Entlassung ist mittlerweile in greifbarer Nähe, doch hinter ihr und ihrem Mann liegen kräftezehrende Wochen, in denen das Leben stillstand.

 

Als Marlene Burkhardt aus der Vollnarkose aufwacht, stehen rechts und links von ihr Inkubatoren, auch Brutkästen genannt, in denen ihre Söhne liegen. „Mein erster Gedanke war: oh Gott, wie soll das werden“, erzählt sie. Denn die Realität ist ganz anders als die Vorstellung dieses ersten Moments. Statt rosigen, pausbäckigen Neugeborenen, die schreien, fällt ihr Blick auf Kabel und Geräte, die ihren Söhnen das Atmen erleichtern, dazwischen kleine Gesichter mit roter Haut. 740 und 820 Gramm. Die App, die Schwangerer häufig nutzen, um zu verfolgen, wie groß ihr Ungeborenes ist, würde als Vergleichswert eine Zucchini anzeigen – oder eine Familienpackung Tiramisu.

33 Frühchen mit weniger als 1250 Gramm

2024 sind im RKH Klinikum Ludwigsburg 2551 Kinder auf die Welt gekommen – davon 33 Frühchen mit einem Geburtsgewicht unter 1250 Gramm. Jochen Meyburg, Ärztlicher Direktor und Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, hat in den letzten Jahrzehnten die Entwicklung der Neonatologie, der Neugeborenenvorsorge und -medizin, miterlebt. Während zu seinen Anfangszeiten Mitte der 90er Frühgeburten der 24. Schwangerschaftswoche (SWS) noch eine ganze Station in helle Aufregung versetzten, hat sich die kritische Grenze mittlerweile bis zur 22. SWS verschoben. In den letzten Jahren hat sich die Frühchenversorgung vor allem in drei Bereichen weiterentwickelt: Man versucht die Kinder nicht mehr zu intubieren, wenn möglich bekommen sie Muttermilch, gespendet oder von der eigenen Mutter, und die Eltern sind bei Visiten dabei und werden in der Versorgung miteinbezogen.

Klinik ein Paralleluniversum

Marlene Burkhardt hat sich eine Stunde nach der Geburt von ihrem Mann im Rollstuhl auf die Neugeborenen-Station fahren lassen. „Dass ich selbst gerade eine OP hatte, habe ich total vergessen“, sagt sie. Sie ist sich sicher: ohne ihren Mann hätte sie auch vergessen zu schlafen, zu essen, sich um sich selbst zu kümmern. Tagsüber liegen die Babys oft stundenlang auf den nackten Oberkörpern ihrer Eltern. Die Känguru-Methode stärkt die Eltern-Kind-Bindung und sorgt dafür, dass die Frühchen besser schlafen, stabiler atmen und sich schneller entwickeln. „Das Schwierigste war, ohne sie nach Hause zu gehen“, sagt sie. Ihre Tränen hält sie zurück, bis sie zuhause ist, um ihre Unruhe nicht auf ihre Söhne zu übertragen. Denn die Sorge, dass sich ihre Söhne infizieren oder doch Schäden davontragen, schwingt immer mit. Dauernde Alarmbereitschaft.

Wie klein, die Zwillinge bei ihrer Geburt waren, erkennt man an den Schnullern: links der Schnuller in den ersten Wochen, rechts der Schnuller für die Zeit der Entlassung. Foto: Simon Granville

Die Klinik ist für die Burkhardts ein Paralleluniversum, eine andere Welt, in der das Gefühl für Tag und Nacht verschwindet. „Ich habe mich total abgeschottet“, sagt sie. Menschen hätten verständlicherweise ihre Anteilnahme zeigen wollen, aber Marlene Burkhardt habe einfach Ruhe gewollt. „Rede und Antwort zu stehen, wann die Kinder nach Hause dürfen, warum ich immer bei ihnen sein möchte, obwohl sie hier versorgt werden, raubt mir so viel Kraft“, sagt sie.

„La-Le-Lu“-Melodie zur Beruhigung

Marlene Burkhardt und ihr Mann waren wochenlang von der Geräuschkulisse des Krankenhauses umgeben. Ein Piepen, wenn die Infusion durchläuft, ein Piepen wenn die Herzfrequenz fällt, ein Piepen wenn die Sauerstoffsättigung fällt, mal nur von dem Gerät eines Babys, mal im Kanon. „Ich dachte manchmal, ich ertrage es nicht“, sagt Burkhardt. An die fehlende Rückversicherung der Monitore werden sich die Eltern zuhause erst gewöhnen müssen, „aber wir kennen unsere Babys in- und auswendig und sehen direkt, wenn etwas nicht stimmt“, sagt Marlene Burkhardt. Vor kurzem habe sie einen ihrer Söhne beruhigen können, indem sie ihm die Melodie von „La-Le-Lu“ vorgesummt habe. „Das hab ich damals in der Schwangerschaft schon gemacht, da merkt man, dass sie einen schon kennen.“

Schon jetzt würden sie ihren Kindern erzählen, was sie mit ihnen vorhaben. Die Kleinigkeiten – das erste Mal zu viert auf dem Sofa liegen oder Auto fahren – wissen sie jetzt noch mehr zu schätzen. Marlene Burkhardt gibt ehrlich zu: Die Ungeduld, das endlich erleben zu können, steigt. Dennoch: Wenn sie mit ihren Söhnen nach Hause darf, dann mit einem lachenden und einem weinenden Auge. „Das hier war unser zweites Zuhause, wir waren hier nicht einfach nur Zimmer Nummer fünf, wir waren die Burkhardts“, sagt sie. Wohlumsorgt, gut beraten, sicher aufgehoben – jetzt wartet auf die Söhne der Burkhardts die Welt außerhalb des Krankenhauses.

RKH-Klinik

Führung
Der Ärztliche Direktor Jochen Meyburg und sein Team bieten am 7. Mai, 11. Juni, 9. Juli, 13. August, 17. September und 8. Oktober 2025 jeweils von 18 bis 21 Uhr exklusive Führungen über die Frühgeborenen-Intensivstation für einen kleinen Teilnehmerkreis an. Anmeldung unter ludwigsburg.paediatrie@rkh-gesundheit.de.

Krankenhaussterben
Das RKH Klinikum Ludwigsburg hat durch die Nähe zur Klinik für Kinder- und Jugendmedizin mit seinem Perinatalzentrum der höchsten Versorgungsstufe gute Voraussetzungen für die Betreuung von Risikoschwangerschaften und Frühchen. Die beiden RKH-Klinikstandorte haben ein Defizit von rund 40 Millionen Euro. Gefahr, dass das Frauen-Kind-Zentrum dem Spardruck zum Opfer fällt, gibt es derzeit nicht. Sorgen bereiten Meyburg, jedoch die Forderungen, die Zahl der  spezialisierte Kliniken zu reduzieren. „Es darf nicht passieren, dass mittelgroße Häuser wie Ludwigsburg von der medizinischen Landkarte verschwinden“, sagt er. Denn dann seien die Wege für Schwangere zu weit.