Nach dem Ausscheiden im Halbfinale der Weltmeisterschaft gegen die USA wächst der Druck auf Silvia Neid. Droht die deutsche Frauen-Nationalmannschaft den Anschluss an die Weltspitze zu verlieren?

Montreal - Abreise statt Weiterflug. Für zwei wichtige deutsche Beobachtertrupps endete mit dem deutschen Halbfinale in Montreal auch die Stippvisite bei der Frauen-WM. Colin Bell und Siegfried Dietrich, der Trainer und der Manager des 1. FFC Frankfurt, sind nach zehn beeindruckenden WM-Tagen ebenso am kanadischen Nationalfeiertag, dem Canada Day, in die Heimat geflogen wie Ralf Kellermann und Britta Carlson, der Cheftrainer und die Assistenztrainerin des VfL Wolfsburg, nach 14 beobachteten WM-Spielen.

 

Zufällig saßen alle in derselben Maschine – mit denselben Sorgen. Die verbindende Frage lautete: Droht die deutsche Frauen-Nationalmannschaft den Anschluss an die Weltspitze zu verlieren?

Mit den USA und Japan duellieren sich dieselben Teams wie 2011 im Finale in Vancouver (Montag, 1 Uhr). Deutschland tritt davor gegen England im Spiel um Platz drei in Edmonton an (Samstag 22 Uhr/ARD). Zuvor schlägt Bell jetzt Alarm: „Die Deutschen sind in der Lage, selbst den Trend zu setzen. Sachlich betrachtet habe ich den Matchplan für den jeweiligen Gegner nicht gesehen.“ Eine Breitseite gegen die Bundestrainerin Silvia Neid. Der gebürtige Engländer weiter: „Die deutsche Mannschaft muss die Entwicklung vorgeben und ihr nicht wie jetzt hinterherlaufen. Der enorme Siegeswille und die nötige Ausbildung sind vorhanden. Wir könnten der Vorreiter sein. Leider hat die Nationalelf nur sporadisch gezeigt, was sie kann.“

Bell arbeitet erst seit 2011 im Frauenfußball, zunächst beim SC Bad Neuenahr, seit 2013 beim 1. FFC Frankfurt, mit dem er in diesem Jahr die Champions League gewann. Bei der DFB-Auswahl missfiel dem ehemaligen Mainzer Zweitligaprofi in Viertel- und Halbfinale vieles: das statische Spiel, das altbekannte Schema, das sture Festhalten am Personal. Das vorhandene Potenzial würde nicht ausgereizt: „Die Nationalmannschaft ist in der Lage, ein Spiel zu dominieren. Das haben der VfL Wolfsburg, 1. FFC Frankfurt und der FC Bayern, die allesamt in dieser Saison einen Titel gewonnen haben, bewiesen. Wir haben die Spielerinnen für ein starkes Ballbesitzspiel. Dazu bedarf es der Spielintelligenz, Taktik und Technik.“

Der bekennende Christ und Laienprediger ist gewiss kein Populist. Bell möchte aus den Eindrücken vor Ort Anstöße geben, denn: „Die deutsche Mannschaft ist nicht selbst aktiv gewesen, sie hat nur reagiert statt agiert.“ Auch die Trainerin hat er dabei am Spielfeldrand als zu passiv wahrgenommen. „Wenn sich ein Spiel in diese negative Richtung verändert, muss man personelle oder taktische Veränderungen vornehmen. Das ist gegen die USA nicht geschehen.“ Er schule seine Fußballerinnen so, dass sie mehrere Systeme beherrschen; nur so habe sein Verein beispielsweise im Mai Paris St. Germain mit deren zahlreichen französischen Nationalspielerinnen auf das Kreuz legen können.

Derlei Notwendigkeit zur taktischen Flexibilität sieht Neids Assistenztrainerin Ulrike Ballweg nicht. Unflexibel zu sein, gehöre zur Philosophie, sagte sie gerade erst der „taz“: „Wir sind in unserem System sehr flexibel durch verschiedene Spielerinnen und deren unterschiedlichen Charaktere, Spielweisen, Typen. Ich weiß nicht, ob es uns weiterbringen würde, wenn wir fünf verschiedene Systeme spielen könnten.“ Doch nun, nachdem Deutschland jeweils im Viertelfinale der Heim-WM 2011 und im Halbfinale der WM 2015 auf einen Rückstand mit Schockstarre bis zur Trainerbank reagierte, wird die Kritik lauter.

„Schluss mit der Schönfärberei“, schreibt das angesehene Insiderportal „Womensoccer“. Und der in Wolfsburg erfolgreiche Trainer Kellermann hat in der „FAZ“ angemahnt: „Wie wir uns im Verein technisch weiterentwickeln müssen, so muss sich auch die Nationalelf technisch weiterentwickeln, dass man sich auf engem Raum fußballerisch befreien kann. Frankreich und Japan haben im Spielaufbau Vorteile. Sie stellen ständig im Mittelfeld Überzahlsituationen her. Ich denke, dieser Stil wird zu Titeln führen.“ So muss sich die deutsche Nationalmannschaft verändern. Dafür soll von September 2016 an die als Trainerin unerfahrene Steffi Jones als Neid-Nachfolgerin sorgen. Das könnte in einem weitaus raueren Klima geschehen als bisher gedacht.