Menschenhändler suchen ihre Familie in Nigeria immer wieder auf, schlagen ihre Mutter und setzen sie unter Druck, den Aufenthaltsort ihrer Tochter preiszugeben, erzählt Harmony, die ihren echten Namen nicht öffentlich nennen möchte. Wenn sie sich bei ihrer Familie meldet, fleht die Mutter ihre Tochter an, sich bei den Menschenhändlern zu melden. Doch Harmony sagt über ihre Flucht aus den Fängen ihrer Peiniger: „Ich musste das tun.“ Deshalb bricht sie den Kontakt zu ihrer Familie für ein Jahr komplett ab.
Ehemalige Opfer von Menschenhandel unterstützen Frauen
Harmony sitzt in einem Raum im Fraueninformationszentrum (FIZ) in Stuttgart. Dort erzählt sie, wie sie die Flucht vor denjenigen Menschen schaffte, die sie als Teenager zuerst in Libyen, dann in Italien zur Prostitution zwangen. Sie ist Teil des Pilotprojekts „Multiplikatorinnen-Peer-Support“ (MPS), in dem Frauen, die von Menschenhandel betroffen waren, ehrenamtlich andere Frauen in derselben Situation unterstützen. Ruhig und überlegt erzählt Harmony von ihren Erfahrungen. Manchmal bricht ihre Stimme, ihre Augenlider flattern, dann räuspert sie sich und fährt fort. Eine Traurigkeit und Ernsthaftigkeit durchziehen ihre Erzählungen. „Ich weine nicht mehr um mich selbst“, sagt sie. Ihr Ziel sei es, so vielen Frauen wie möglich den Weg aus der sexuellen Ausbeutung zu zeigen. „Ich hoffe, dass ich große Veränderungen anstoßen kann, selbst wenn es viele Jahre dauert“, sagt sie über ihre Arbeit im FIZ.
Zunächst muss Harmony in Libyen als Prostituierte arbeiten
Als sie sechzehn Jahre alt ist, absolviert Harmony gerade eine Ausbildung zur Krankenschwester in Nigeria. Doch ihr Gehalt bezeichnet sie als „Peanuts“: „Umgerechnet habe ich im Monat vier Euro verdient“. Über eine Freundin bekommt sie die vermeintliche Möglichkeit, in Europa eine Ausbildung zur Krankenschwester zu absolvieren. „Ich dachte, dass das meine große Chance wäre“. Zunächst bringt sie ein Ehepaar nach Libyen. Dort merkt sie schnell, dass etwas nicht stimmt. Eine Frau, die bereits in einem Bordell arbeitet, klärt Harmony auf, dass die Krankenschwester-Geschichte eine Täuschung war. Nach einem Jahr wird sie nach Italien verkauft. Dort muss Harmony für eine südafrikanische Frau arbeiten, die unter dem Namen „Madame“ bekannt ist. „Scham, Gewalt, Missbrauch, Beleidigungen.“ Mit diesen Worten beschreibt Harmony ihren Alltag in Italien. Sie beschließt zur Polizei zu gehen, doch deren Antwort lässt sie weiter verzweifeln: Sie seien nicht zuständig für solche Dinge. Resignation setzt bei ihr ein: „Ich hatte keine Wahl mehr. Ab diesem Zeitpunkt musste ich tun, was Madame von mir verlangte“, erzählt sie. „Madame“ brachte Harmony außerdem dazu, ihr Loyalität zu schwören, damit sie sich niemand anderem anvertraut. Aus diesem Grund suchte sie nie Hilfe bei den italienischen Caritas-Leuten, die versuchten, die Frauen von der Straße zu holen. „Wenn wir mit diesen Leuten ertappt wurden, bekamen wir riesigen Ärger mit Madame“, erinnert sich Harmony.
Die Menschenhändler versetzen ihre Familie in Angst und Schrecken
Nach Jahren der Ausbeutung und der Abhängigkeit entschließt sie sich, zu flüchten. „Irgendwann dachte ich mir, dass es besser ist zu sterben als eine Sklavin zu sein und jedes Mal missbraucht zu werden“, sagt sie über ihre Entscheidung. Zunächst flieht sie nach Sizilien, dann nach Rom. Dort geht sie kurzzeitig zurück in die Prostitution, weil sie kein Auskommen findet. Schließlich wird sie zur Bettlerin auf Roms Straßen. In dieser Zeit lernt sie ihren jetzigen Ehemann kennen, der sie auf ihrem Weg in die Freiheit unterstützt. Zu allen anderen bricht sie den Kontakt ab: „Madames“ Gefolgsleute versuchen Harmony zu finden, sie versetzen ihre Familie in Angst und Schrecken. Auch die Leute, bei denen Harmony in Rom kurzfristig Zuflucht findet, sind verängstigt, nachdem Geschichten von ihrer früheren Zuhälterin die Runde machen. „Viele Frauen haben nicht den Mut, das zu tun, was ich getan habe“, sagt Harmony über ihre Entscheidung, zu fliehen. Dort, in Italien, realisiert sie, wie wichtig es ist, ihre Rechte zu kennen, erzählt sie. Die Dringlichkeit in ihrer Stimme ist nicht zu überhören, als sie sagt: „Meine Vergangenheit ist eine große Last auf meinen Schultern. Ich hoffe, dass meine Geschichte Veränderungen anstößt für Leute, die nach mir kommen.“ Die Verantwortung für folgende Generationen ist es, die Harmony antreibt. In dem Pilotprojekt des Fraueninformationszentrums versorgt sie Opfer von Menschenhandel mit Informationen, vermittelt Anwälte und begleitet sie zum Ausländeramt. All diese Dinge hält Harmony zwar für wichtig doch ihre wichtigste Rolle sieht sie darin, anderen Angst zu nehmen: „Indem ich meine Geschichte erzähle, gebe ich ihnen die Erlaubnis ihre Erfahrungen ebenfalls zu teilen“.
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Die Frage, ob sie in Deutschland bleiben will, bejaht sie. Doch momentan wird sie lediglich geduldet – ihr Bescheid fiel negativ aus. Erneut fühlt sie sich von den Ämtern im Stich gelassen: „Sie haben mir nicht geglaubt, sie dachten, ich erzähle Lügen“, sagt sie über ihre Erfahrungen im Asylverfahren. Sie sieht viel Leid unter Nigerianern, die eifrig seien, zur Schule gehen und ihren Lebensunterhalt verdienen wollten. Trotz der Sorge um ihren Aufenthaltsstatus sagt Harmony: „Heute bin ich eine freie Frau“ und reckt stolz ihren Kopf.
evtl. Infobox zum Fraueninformationszentrum:
Das Fraueninformationszentrum (FIZ) in Stuttgart gehört zum VIJ e.V. und ist eine vom Land Baden-Württemberg anerkannte Fachberatungsstelle bei Menschenhandel. Das Zentrum bietet kostenlose, vertrauliche Beratung für Migrantinnen, Frauen im Asylverfahren, Betroffene von Menschenhandel und Arbeitsausbeutung an. Allein im letzten Jahr wurden 260 Personen zum Thema Menschenhandel beraten, 2018 waren es noch 180. Unter der Telefonnummer 0711 2394124 können Betroffene sich melden. Im Jahr 2018 begann die erste Schulung von Frauen für das Pilotprojekt „Multiplikatorinnen-Peer-Support“. Gefördert wird das Projekt durch die Diözese Rottenburg-Stuttgart und die Diakonie Württemberg. Die Schulung einer zweiten Gruppe ist momentan in Vorbereitung.