„Die Erneuerung der CDU ist noch längst nicht abgeschlossen, wenn sich alle 'ausgekotzt' haben“, sagt Inge Gräßle, Vorsitzende des Frauenunion Baden-Württemberg. Den Worten müssten Taten folgen.

Stuttgart - Frau Gräßle, Wahlforscher führen die starken Verluste der CDU auch darauf zurück, dass sie versäumt hat, sich zu modernisieren. Wo sehen Sie Defizite?

 

Die CDU ist zerrieben worden zwischen den Grünen und der AFD. Wir haben 19 Prozent der Frauen über 60 Jahren verloren. Diese Frauen sehen, welche Bedingungen ihre Töchter und Enkel haben – und wenden sich ab. Manche in der CDU glauben aber noch immer, dass wir einen Bogen um bestimmte Themen machen können. Ohne die Stimmen der Frauen über 60 hat aber bisher keiner in der CDU eine Wahl gewonnen.

Welche Themen werden denn ausgespart?

Zum Beispiel die Kinderbetreuung, die Chancen von Frauen, ihre Gleichstellung am Arbeitsplatz, die Bedingungen von Familien im ländlichen Raum. Aufgaben wie etwa die Pflege dürfen nicht länger automatisch auf die Frauen abgeschoben werden.

Die CDU gibt sich gern als Partei der kleinen Leute. Hat sie sich zu wenig um diese gekümmert?

Die Spätaussiedler sind uns fast gänzlich entglitten, viele sind ebenso wie Hartz IV-Empfänger zur AfD übergelaufen. Die gespaltene Haltung in der Flüchtlingsfrage hat sich negativ ausgewirkt, das hat unsere Wähler verunsichert. Viele Frauen sind zu den Grünen, Männer eher zur AfD abgewandert.

Wie kann sich die CDU denn erneuern?

Die Erneuerung ist noch längst nicht abgeschlossen, wenn sich alle „ausgekotzt“ haben. Wir müssen die Partei an Haupt und Gliedern erneuern. Jetzt schlägt die Stunde von Strobl. Wenn er ein Reformer sein will, muss er einlösen, was der Spitzenkandidat versprochen hat: dass die Hälfte der Regierungsämter an Frauen geht. Wir haben in der Partei und der Fraktion Frauen, die für anspruchsvolle Aufgaben geeignet sind.

Wie lernfähig ist den die Südwest-CDU in puncto Modernisierung?

Ich war als Landtagsabgeordnete dabei, als das Kinderland Baden-Württemberg geboren wurde – wir mussten damals um jede zusätzliche Stunde Kinderbetreuung kämpfen. Ohne die massiven Forderungen aus der Wirtschaft hätten wir es nicht geschafft, die Ganztagsbetreuung auszubauen. Aber wir müssen da noch mehr tun. Wir brauchen ein flächendeckendes Ganztagsangebot und verlässliche Betreuung für Schüler bis zur siebten Klasse – nur dann haben Frauen wirkliche Freiheit, auch arbeiten gehen zu können.

Im Wahlprogramm verspricht die CDU denjenigen, die keine Betreuung in Anspruch nehmen. Landesfamiliengeld. Kritiker befürchten, dass das benachteiligte Eltern davon abhalten könnte, ihre Kinder in den Kindergarten zu schicken.

Wir wollen, dass Eltern wählen können. Wir fordern auch ein beitragsfreies, verpflichtendes letztes Kindergartenjahr.

Beim Kassensturz vergangen Woche zeigte sich, dass für zusätzliche Ausgaben kein Geld zur Verfügung steht. Wo also anfangen?

Wenn es zum Schwur kommt, würde ich der Frauenunion empfehlen, sich für den weiteren Ausbau der Kinderbetreuung zu entscheiden. Damit ist Frauen, die arbeiten müssen, am meisten geholfen.

Was erwarten Sie von Ihrem Landesvorsitzenden Thomas Strobl und der neuen Landtagsfraktion noch?

Dass das Landtagswahlrecht endlich geändert wird. Viele in der Frauenunion sind enttäuscht, weil sie zu allerlei Hilfsdiensten herangezogen werden. Wenn es aber um wirklichen Einfluss geht, sind sie außen vor. Wir hatten bei der Landtagswahl 15 Kandidatinnen, sieben wurden gewählt. Dort, wo es schwierig ist, etwa in Großstädten, durften Frauen kandidieren. Ein Wahlrecht mit einer Landesliste ist auch im Interesse der Partei. Damit können wir sicherstellen, dass auch Frauen und Abgeordnete aus Großstädten im Parlament vertreten sind. Bisher kämpft jeder Kreisverband und jeder Bezirksverband für seine Interessen.

Braucht es eine Frauenquote?

Die Grünen haben es mit ihrer Quote geschafft, 22 Frauen und 25 Männer ins Parlament zu bringen. Bei uns sind sieben von 42 Abgeordneten weiblich. Die knallharte Quotierung führt dazu, dass auch mehr Frauen die Grünen wählen. In der Frauenunion haben wir das nie gefordert. Aber mittlerweile glaube ich, dass es ohne Quote nicht geht.

Werden Sie dafür denn eine Mehrheit finden?

Natürlich gibt es Widerstand gegen jede Veränderung. Statt Seilschaften brauchen wir jedoch Solidarität für die Gesamtpartei. Wenn es uns jetzt nicht gelingt, uns zu modernisieren, werden wir noch mehr verlieren. Die Hoffnung mancher, durch konservativere Politik Afd-Wähler zurückzuholen, wird sich nicht erfüllen – dann werden wir in der Mitte noch mehr einbrechen. Damit hätte die CDU als Baden-Württemberg-Partei ausgespielt. Ohne die Großstädte und mittleren Städte kann niemand die Wahl gewinnen. Dort haben wir viele Direktmandate verloren.

Wie wollen Sie denn in den Städten Stimmen zurückgewinnen?

Wir sollten aufhören, uns der Realität zu verweigern. 2011 haben viele in der CDU die Wahlniederlage auf die Atomkatastrophe in Fukushima geschoben, jetzt schieben sie es auf Kretschmann und die Flüchtlinge. Wir müssen uns öffnen, statt abzuwehren, was uns fremd ist. In den Städten leben viele Migranten und Zugezogene. Warum haben wir keine Mandatsträger mit russlanddeutschem Hintergrund? Wir haben eine Frau mit türkischen Wurzeln im CDU-Landesvorstand - das reicht nicht. Die Menschen glauben schon gar nicht mehr, dass von uns kluge Lösungen kommen.

Der CDU-Nachwuchs, die Junge Union hat gewarnt, wer Kretschmann wähle, bekomme Özdemir…

Ich fand das unmöglich. Mit Ressentiments zu spielen geht gar nicht. Wir müssen darauf bauen, dass diejenigen, die bei uns leben, auch bei uns mitmachen. Das geht aber nur, wenn wir uns öffnen und nicht so tun, als gehöre nur zu uns, wer Lederhosen und Janker trägt. Als modernes Industrieland müssen wir unsere deutschen und nichtdeutschen Zuwanderer mehr einbinden.

Ihr größter Wunsch?

Beim Thema Teilhabe von Frauen, Migranten, beim Thema Kinderbetreuung möchte ich mir nicht mehr die Zähne ausbeißen müssen. Wir müssen mal aufhören, die Vergangenheit ständig zu verklären. Was war das für ein Bohei um den Nationalpark, der bei den Bürgern doch gut ankommt. Wir sind zu anfällig für Lobbyinteressen. Das sollte aufhören. Wir müssen alle Interessen abwägen.