Acht Jugendliche bereiten sich derzeit an der Freien Aktiven Schule in Degerloch auf den Werkrealschulabschluss vor. Das Konzept sieht vor, dass die Schüler die Hoheit darüber haben, wann sie was lernen. Kann das gut gehen?

Klima & Nachhaltigkeit: Judith A. Sägesser (ana)

Degerloch - Lennart könnte die Seele baumeln lassen, aber er hat sich für Deutsch entschieden. Mit Kopfhörern beugt er sich über sein Blatt, neben ihm ein Lexikon. Ob Lennart Deutsch übt, ist seine eigene Entscheidung. Das gilt auch für die Mitschüler des 15-Jährigen. Lennart und seine Freunde besuchen die Freie Aktive Schule in Degerloch mit aktuell insgesamt 100 Schülern.

 

Die Lehrer heißen nicht Lehrer, sondern Begleiter, und sie arbeiten nach der Reformpädagogik von Maria Montessori und Rebeca Wild. Diese sieht vor, dass Schüler bestimmen, wann sie was lernen. Noten und Klassenarbeiten gibt es nicht.

Bisher haben alle bestanden

Lennart und seine Freunde haben beschlossen, dass es Zeit ist für den Werkrealschulabschluss. Bis 1. März müssen sie sich verbindlich anmelden. Vor ihnen haben das bereits zwei Jahrgänge an der 2002 eröffneten Schule getan. 2013 waren es sieben Schüler, 2014 drei und in diesem Jahr acht. Bisher habe jeder bestanden, der sich angemeldet hat, sagt Katrin Bohner von der Geschäftsführung.

In dem Raum im Obergeschoss geht es ein bisschen zu wie im Lesesaal einer Hochschule. Manche der Jugendlichen feilen zusammen vor dem Laptop an einem Aufsatz, andere büffeln für sich und wechseln zwischen Löcher-in-die-Luft-starren und Gedankennotieren. Der Raum ist erfüllt von Kaffeegeruch und Hirnschmalz.

In den Regalen an den Wänden finden sich Bücher, Mathespiele, Karteikarten, in Fächern liegt zum Beispiel Material zu Bruchrechnen oder Geometrie. Jeder holt sich, was er braucht. Ein Mädchen sagt zu seiner Nebensitzerin: „Ich habe noch nicht mal die Einleitung.“ Die Freundin antwortet: „Nicht so viel nachdenken, einfach schreiben.“ So funktioniert Freie Aktive Schule, die Schüler unterstützen sich, statt sich zu übertrumpfen, und die Begleiter leisten Hilfe zur Selbsthilfe – wenn dies erwünscht ist.

Lennart, der Anfang Mai Prüfung machen will, hat in den ersten Jahren nichts von dem getan, was Kinder normalerweise an Schulen tun. Er hat lieber an Bretterhäuschen gehämmert, als Einmaleins und ABC zu lernen, sagt er. Wer sich eine Weile mit ihm unterhält, glaubt ihm, dass das nichts heißen muss. Zwar habe er später als andere gewusst, was fünf mal sieben ergibt. Den lieben langen Tag zu zimmern, habe ihm aber durchaus auch etwas gebracht. Er sei gut darin, sich in eine Sache zu vertiefen. Damals war es das Baumhaus, heute ist es zum Beispiel der Deutschaufsatz.

Nun werden die Wissenslücken gestopft

Die Jugendlichen haben sich inzwischen um einen Tisch gesetzt. Alle kennen nur dieses Schulsystem. Wenn sie erzählen, klingen sie wie kleine Erwachsene. Vorurteile gehören zu ihrem Alltag wie die Selbstbestimmung. Sie werden oft abgestempelt, weil sie angeblich nichts lernen. Egal was andere sagen, wegen der Prüfung macht sich hier keiner einen Kopf. Vor Kurzem haben sie eine Probeprüfung geschrieben. „Es war, sagen wir, okay“, sagt Lennart. Die 17-jährige Juliane ergänzt: „Meistens muss man die Fehler erst machen, damit man sie verbessern kann.“ Die Prüfung hat Lücken aufgezeigt, die stopfen sie nun.

Selbstzweifel kämen eher in den unteren Klassen auf, sagt Katrin Bohner von der Geschäftsführung. „Die Kinder merken oft gar nicht, was sie schon alles angesammelt haben.“ Sie lernen zum Beispiel auch etwas, wenn sie Dokus auf dem Handy anschauen oder auf der Couch diskutieren.

2014 haben Lennart und die anderen den Hauptschulabschluss gemacht, es war ihre erste Berührung mit dem gängigen System. Auch wenn Privatschulen Sonderwege anbieten dürfen, am Prüfungstag gelten für alle Schüler in Baden-Württemberg dieselben Regeln. Für die Vorbereitung haben sich die freien aktiven Schüler damals eine Struktur gewünscht. Seitdem gibt es einen Plan, an den sie sich halten können, aber nicht müssen. Wobei Lennart sagt: „Wir haben uns die Strukturen ja ausgedacht, es würde wenig Sinn machen, wenn wir sie nicht nutzen.“ Willenskraft gewinnt gegen Zwang. „Wir wollen was lernen“, sagt Michi.

Die Schüler müssten sich zu früh entscheiden

Nach dem Hauptschulabschluss ist nun also der nächste Schritt dran. Nur nicht für Veronika. Die 15-Jährige legt eine Pause ein, lernt aber trotzdem mit den anderen. Katrin Bohner sagt, mit Veronikas Leistung habe das nichts zu tun. Im Gegenteil. Sie wisse nur nicht, wie es danach weitergehen soll und will noch auf der Schule bleiben.

Katrin Bohner findet, die Schüler müssten zu früh Entscheidungen treffen. „Das passt nicht zum Konzept.“ Ihr wäre es lieber, wenn die Jugendlichen auch das Abi an der Schule machen könnten oder wenn sie bleiben dürften, so lange sie wollten. Lennart erzählt von seiner Schwester, die inzwischen am Gymnasium ist: „Die findet das okay, aber sie ist extrem genervt, dass sie kaum mehr Freiheiten hat.“ Deshalb haben Michi, Lennart und die anderen eine Idee: sich allein aufs Abi vorzubereiten. Noch sind sie am Recherchieren, ob die Bürokratie das überhaupt erlauben würde. Sie werden den Gedanken weiter spinnen.