Freie Schulen gibt es nicht so viele. In Pattonville hat vor wenigen Monaten eine aufgemacht. Sie ist nach der Freien Schule in Marbach erst die zweite ihrer Art im Landkreis. Kinder können hier ihr Lernen selbst bestimmen.

Es war so etwas wie ein Schlüsselerlebnis. Als Tanja Thielemann ihren Sohn aufwachsen sah, war ihr klar, dass er ein kleiner Forscher ist, dass er mit Freude und Tatendrang Dinge lernt und lernen will. Und genau das sollte er auch weiter tun können, wenn er mal in die Schule kommt. Aber geht das in einer „normalen“ Schule? Eingeschränkt durch einen starren Stundenplan? Nein, lautet Tanja Thielemanns Antwort.

 

Deshalb war für die Mutter klar, dass das Kind in einer Freie Schule gehen soll. Nur sind diese halt eher rar gesät. „Ich könnte selbst eine gründen“, war Tanja Thielemanns Gedanke. Dieselbe Idee hatte Simone Betz aus Kornwestheim. Auch sie hat sich, als sie Mama wurde, mit den Themen Lernen und Schule beschäftigt und kam für sich zu dem Schluss: „Das Schulsystem ist einfach nicht mehr zeitgemäß. Die Wissenschaft hat erforscht, wie wir lernen, wie wir nachhaltig lernen. Dem wird unser Schulsystem nicht gerecht.“

Simone Betz gründete ein Eltern-Kind-Büro, eine Art selbstorganisierte Kinderbetreuung. Den Gedanken, eine Freie Schule zu gründen, spielte sie weiter – und hatte schnell eine relativ große Gruppe an Mitstreitern, die allerdings dann doch alle wegbröckelten. Und da kam Tanja Thielemann ins Spiel, die eben vom Bodensee nach Ludwigsburg gezogen war. Ende 2019 trafen sich die beiden Frauen zum ersten Mal und sprachen über ihre Ideen. „Da haben wir gemerkt, dass wir ziemlich ähnlich denken“, sagt Tanja Thielemann.

Im Mai ging es mit 15 Schülern los

Auch wenn Corona die beiden Schulgründerinnen sehr ausgebremst hat – das Projekt wuchs und wuchs. Simone Betz schrieb das Finanzkonzept, Tanja Thielemann das pädagogische Konzept, ein Verein wurde gegründet, das pädagogische Konzept beim Regierungspräsidium und beim Kultusministerium eingereicht, nach einer geeigneten Immobilie gesucht. Letztere fanden die beiden in der Mitte von Pattonville. Die Genehmigung kam und irgendwann war auch die nötige Brandschutztreppe installiert.

Diesen Mai ging es los mit der Freien Schule Kornwestheim. 15 Schüler im Grundschulalter waren von Anfang an dabei, zum neuen Schuljahr kamen zehn weitere hinzu. Die Jungen und Mädchen lernen altersgemischt, es gibt keine Noten oder Prüfungen. Die Räume in der Schule sind nach verschiedenen Themen eingerichtet. Es gibt einen „Baumraum“ für Kulturtechniken, Deutsch und Mathe, einen Kreativraum, einen Musik- und Theaterraum, einen Bewegungsraum, ein Spiele- und Bauzimmer sowie den Raum für Naturwissenschaft und Experimente. Das Lehrer-Team besteht unter anderem aus der Soziologin Tanja Thielemann, einer Grund- und Hauptschullehrerin, einem Verfahrenstechniker, der auch Waldpädagoge ist, einer Heilpädagogin und einer Mathematikerin.

Wenn die Kinder morgens in die Schule kommen, können sie selbst entscheiden, was sie machen wollen. Die ersten Wochen und Monate haben gezeigt: Viele starten in der Küche, berichten Tanja Thielemann und Simone Betz. „Manche nutzen aber auch die Ruhe morgens, um konzentriert schon mal etwas zu schreiben oder zu lesen.“ Vieles läuft über Gruppendynamik. Einer schreibt etwas, andere kommen dazu, machen mit, am Ende wird sich gegenseitig vorgelesen.

Die Kinder gestalten mit und haben ihre Freiheit dabei. Halt, Struktur und Sicherheit sollen die Angebote geben, die das Lehr-Team offeriert, die aber ebenfalls freiwillig sind. Täglich geht es beispielsweise nach draußen, auf die Spielplätze um Pattonville oder auf den Sportplatz, da der Schule ein eigener Außenbereich fehlt.

Die neue Schule soll noch wachsen

„Wir sind weiter auf der Suche nach Räumen“, sagt Simone Betz. Zumal die Schule auch noch wachsen soll. Momentan ist man im Prozess der Genehmigung der Werkrealschule. In den Herbstferien soll es ein Gespräch mit dem Regierungspräsidium dazu geben. Denn es soll weitergehen nach der vierten Klasse. „Ein geschärfter Blick liegt natürlich darauf, ob die Schüler es dann wirklich schaffen, einen Werkrealschul-Abschluss zu machen“, erklärt Simone Betz.

Auch die Eltern sind in der Schule involviert. Zum einen zahlen sie einkommensabhängig Schulgeld, zum anderen dürfen sie den Alltag mitgestalten. So gibt es beispielsweise einen Vater, der mit den Kindern programmiert oder Eltern, die mit den Schülern kochen oder backen. „Es ist das sprichwörtliche Dorf“, sagt Simone Betz. „Es ist wichtig, eine Gemeinschaft zu haben.“ Und es ist wichtig, ergänzt Tanja Thielemann, „dass die Kinder den Kontakt zu sich selbst nicht verlieren. Sie müssen sich immer wieder fragen: Was will ich? Das können sie bei uns.“

WUPPERTALER THESEN

Demokratie
 Seit 1978 finden ein- bis zweimal jährlich die „Bundestreffen der Freien Alternativschulen“ statt. Auf dem Treffen 1986 in Wuppertal wurden acht Thesen verabschiedet, die das gemeinsame bildungspolitische Selbstverständnis dokumentieren. Unter anderem geht es darin darum, dass die gesellschaftlichen Probleme der Gegenwart und Zukunft auf demokratische Weise nur von Menschen zu lösen sind, die Eigenverantwortung und Demokratie leben können. Alternativschulen versuchen, Kindern, Lehrern und Eltern die Möglichkeit zu bieten, Selbstregulierung und Demokratie im Alltag immer wieder zu erproben.

Selbstbestimmung
 Alternativschulen sind Schulen, in denen Kindheit als eigenständige Lebensphase mit Recht auf Selbstbestimmung, Glück und Zufriedenheit verstanden wird, nicht etwa nur als Trainingsphase fürs Erwachsenen-Dasein.

Bedürfnisse
 Alternativschulen schaffen einen Raum, in dem Kinder ihre Bedürfnisse, wie Bewegungsfreiheit, spontane Äußerungen, eigene Zeiteinteilung, Eingehen intensiver Freundschaften, entfalten können.

Lernen
  Lerninhalte bestimmen sich aus den Erfahrungen der Kinder und werden mit den Lehrern gemeinsam festgelegt. Die Auswahl der Lerngegenstände ist ein Prozess, in den der Erfahrungshintergrund von Kindern und Lehrern immer wieder eingeht. sl