Freiheit auf vier Rädern Sehnsucht Führerschein – „Können die Finger nicht vom Lenkrad lassen“

, aktualisiert am 07.10.2025 - 12:13 Uhr
Eberhard Reuß ist seiner Leidenschaft für schöne Autos bis heute treu geblieben.Foto: privat/Vor einem halben Jahrhundert war dieser graue Lappen für unseren Autor „fast schon Pflicht, um aus der engen Welt der Vorstadthölle herauszukommen“. Foto: privat

Vor 50 Jahren machte unser Autor den Führerschein. Nun blickt er auf eine Zeit zurück, in der sich Heranwachsende danach sehnten, endlich hinter dem Lenkrad zu sitzen.

Sommer 1975 in der alten Bundesrepublik. Seit Jahresbeginn sind mehr als zwei Millionen Teenager erwachsen geworden. 18 ist das neue 21, jetzt auch mit aktivem und passivem Wahlrecht. In Bonn regiert Helmut Schmidt mit einer sozialliberalen Koalition, und der baden-württembergische Ministerpräsident Hans Karl Filbinger verkündet, dass ohne das Kernkraftwerk Wyhl zum Ende des Jahrzehnts im Land die ersten Lichter ausgehen werden. Doch in den Dörfern und Kleinstädten des Südwestens denken die gerade volljährigen, meist langhaarigen Gestalten beiderlei Geschlechts nicht an Politik, sondern träumen von der Freiheit auf vier Rädern. 1975 werden in der Bundesrepublik 1,2 Millionen Pkw-Führerscheine neu erworben – in einem einzigen Jahr  wohlgemerkt.

 

Schon vor den Sommerferien geht es auf den Lehrerparkplätzen immer enger zu. Angehende Abiturienten brauchen Platz für elterliche Leihwagen sowie eigene Neu- oder Gebrauchterwerbungen. Und wer ausgerechnet in der Rennstadt Hockenheim am örtlichen Gauß-Gymnasium die Schulbank drückt, wie damals der Schreiber dieser Zeilen, der hat wahrscheinlich sowieso etwas mehr Benzin im Blut und wittert den Duft von verbranntem Öl und Gummi – selbst drei Kilometer Luftlinie vom Motodrom entfernt.

Auto-Posing mit wenig PS in der Ente

Bus und Bahn, Fahrrad, Mofa und Moped scheinen vergessen. Im 15 Kilometer entfernten Oberhausen zwängen sich Hardy und Harald in einen winzigen, weißen Fiat 126, um mehr oder minder pünktlich zum Unterricht zu kommen, der damals auch noch samstags stattfindet. Im entlegenen Staatsgut „Insultheimer Hof“ sattelt Jörg seinen froschgrünen Renault 4 für den Kurzritt nach „Hoggene“.

Das Auto-Posing von damals braucht wenig PS. Peter fährt eine knallgelbe Ente. Heiner spart für einen Käfer in texasgelb. Der von Tommi ist taubenblau und gebraucht. Saki wird den königsroten VW seiner Mutter übernehmen. In Wolfsburg bieten sie auch „negroschwarz metallic“ in ihrer Farbpalette an, aber das geht schon damals nicht. Wir wollen es bunt treiben. Aus Freude am Fahren. Grau und schwarz ist nicht der Lack, sondern allenfalls das, was aus dem Auspuff kommt. Mein erstes Auto wird ein türkisblauer Seat 127, die spanische Variante des baugleichen Fiat-Typs. Baujahr 1973, knapp 30 000 km, 45 PS, 145 Spitze, 800 Kilo leicht, zwei Türen mit Heckklappe, 3,60 Meter für 4000 D-Mark.

Das erste Auto unseres Autors: ein Seat 127 Foto: privat

Heute kann allein der Erwerb des Führerscheins um die 3000 Euro und mehr kosten. In städtischen Milieus lässt sich mit ÖPNV inzwischen auf solch eine Investition leichter verzichten. Doch vor einem halben Jahrhundert ist der graue Lappen fast schon Pflicht, um aus der engen Welt der Vorstadthölle herauszukommen. Väter, Mütter, Großeltern und Anverwandte steuern meist ihr Scherflein bei. Der Rest stammt aus Ferienjobs bei der Post, am Fließband oder in der Gastronomie. In den Sommerferien 1975 ist alles beisammen für die Anmeldung bei einer Fahrschule in Hockenheim.

Wettstreit um die wenigsten Fahrstunden

Untereinander herrscht ein gewisser Konkurrenzdruck: XY hat es In zehn Stunden zum Führerschein geschafft. Wenn ich das Doppelte brauche? Wie peinlich. Eine Fahrstunde bei Herrn Schneider kostet 20 Mark. Im Angebot: 105 PS im gelben BMW 1602 TI mit Handschaltung. Bringt nur 965 kg auf die Waage und schafft über 180 Sachen. Oder etwas gemäßigt: 100 PS im orangefarbenen Typ 2002 mit Automatik. Bis heute rechnen Boomer noch immer in Pferdestärken und nicht in Kilowatt. Bei den Fahrstunden gewinnt der flotte Gelbe. Bei der Prüfung geht man mit orange auf Sicherheit.

Der 1975 frisch erworbene Führerschein unseres Autors Foto: privat

1975 kommen etwa 19 Millionen Pkw auf rund 62 Millionen Bundesbürger. Die Straßen sind noch nicht überfüllt. Alle Unternehmen leisten sich eigene Warenlager, tonnenschwere Lastwagen-Karawanen sind nicht pausenlos „just in Time“ unterwegs, Straßen und Brücken scheinen unbegrenzt belastbar. Der durchschnittliche Pkw bringt um die 1000 Kilo auf die Waage.

Monster auf vier Rädern

Ein SUV von heute ist doppelt so schwer, bewegt sich als Stromer schon in Reichweite von drei Tonnen und sieht vom Design auch so aus. Der Blick in den Rückspiegel verklärt zwar manches. Aber die Autos und unsere Ansprüche scheinen leider immer größer geworden zu sein. Das aggressive Design, die bulligen Kühlermasken, all die rollenden Dinosaurier von heute markieren den Endpunkt ewigen automobilen Imponiergehabes. Kann man diese Monster auf vier Rädern noch so naiv lieben, wie wir alten weißen Männer und Frauen unsere kleinen Nuckelpinnen von damals?

Um nostalgische Gefühle etwas auszubremsen: Am Ende des Jahres 1975 verzeichnet das Statistische Bundesamt 1,264 Millionen Unfälle im Straßenverkehr. Die Bilanz: 14 870 Tote, 457 797 Verletzte. Die jüngste Statistik für das vereinte Deutschland kommt für 2024 auf 2770 Verkehrstote und 364 993 Verletzte bei 2,512 Millionen Unfällen. Und dies bei inzwischen 49 Millionen Pkw und knapp 84 Millionen Einwohnern. Tendenziell also mehr Verkehr, aber viel weniger tödliche Unfälle.

    Ein halbes Jahrhundert zuvor gibt es kein ABS und Airbag. Die Anschnallpflicht wird zwar 1976 eingeführt, zunächst aber nur für die Vordersitze. Und Gurtmuffel kommen bis 1984 ohne Bußgeld davon. Über ein Tempolimit wird noch immer heftig diskutiert, doch auf den Autobahnen gibt es dank Baustellen und örtlichen Tempobeschränkungen längst nicht mehr so viele Gelegenheiten für schnelles Fahren. Mit Blick auf CO2-Emissionen ist die Luft weitaus angenehmer als 1975, wenn auch für viele längst nicht sauber genug im Kampf gegen den Klimawandel.

13 542 D-Mark Aufpreis für ein Autotelefon

Sogenannte Sicherheitsfeatures gibt es 1975 nur in der Luxusklasse. Das Top-Modell aus Untertürkheim ist der 450 SEL 6,9 Liter, 286 PS, über fünf Meter lang, Verbrauch um die 23 Liter Super auf 100 Kilometer. Grundpreis 69 930 D-Mark. Dafür inbegriffen: Klimaanlage, heizbare Heckscheibe, Zentralverriegelung, Tempomat, elektrische Fensterheber und vor allem Automatikgurte vorn und im Fond. Für 13 542 D-Mark Aufpreis gibt es auch ein Autotelefon. Das monatliche Bruttoeinkommen liegt damals für Männer im Schnitt bei 1013 DM, für Frauen bei 679.

Alles unbezahlbare Träume für autobegeisterte junge Leute von gestern mit frisch erworbenem Führerschein. Aber Dutzende von Automagazinen liefern Lesestoff und reichlich Futter für Träume auf vier Rädern. Die halbstarke Jugend von damals liebt es flach und schnell. Und in Zuffenhausen dengeln sie noch keine Dickschiffe zusammen, sondern einen 911 Turbo mit 260 PS, 1200 Kilo leicht, in 5,5 Sekunden von Null auf Tempo 100. Spitze über 230 Sachen. Kostenpunkt 65 800 DM. Gerade mal 654 Exemplare werden davon 1975 verkauft.

Bei all der begeisterten Eroberung der Welt auf vier Rädern: Viel zu viele meiner Generation werden leider bereits in jungen Jahren Opfer von Leichtsinn und Fehleinschätzungen. Zu fünft unterwegs in einem Kleinwagen. Einmal nicht aufgepasst. Zur falschen Zeit am falschen Ort. Vor 50 Jahren sind auch noch 0,8 Promille Alkohol am Steuer erlaubt. Nun ja, wir waren alle mal jung und haben das Leben von vorn gelebt und verstehen es heute vielleicht von hinten.

Das erste Traumauto: ein Golf 1 GTI

Im Sommer 1976 sind wir zum Nürburgring gefahren, im Kassettenrecorder wird „Frampton comes alive“ rauf und runter genudelt, zu zweit nächtigen wir in dem winzigen Seat, leider ohne Liegesitze. Am Rennsonntag verunglückt Niki Lauda, die nächsten Formel 1-Rennen finden künftig in Hockenheim fast vor unserer Haustür statt.

Zwei Jahre später habe ich die Schnapsidee, im besagten und betagten Seat nach Schottland zu fahren. Was macht man nicht alles, weil die Herzensdame so gern die schreckliche Paul McCartney-Nummer „Mull of Kintyre“ hört? Und was für ein Glück, denke ich heute, dass Martina rechtzeitig mit mir Schluss gemacht hat, die Schottland-Tour ins Wasser gefallen ist und mir möglicherweise ein Crash im Linksverkehr erspart geblieben ist. Schicksal, Zufall, Glück? Mein erstes Traumauto, das ich mir leisten kann, ein Golf 1 GTI, in Lhasa grün metallic, 112 PS, Spitze 185, beschert mir drei Unfälle. Der Erste aus Dummheit von mir verursacht, die beiden folgenden unverschuldet. Crash Nummer drei endet an einer Leitplanke auf der A6 in Fahrtrichtung Weinsberger Kreuz. Hätte auch mein letzter Unfall sein können, in ganz und gar fatalem Sinn. Glück gehabt.

Verbrenner klingt heute fast wie „Verbrecher“

Auch Glück, dass es danach nie wieder gekracht hat. Obwohl mit jedem weiteren Wagen die PS-Zahl wuchs. 139, 160, 286 – damit gibt es einmal ein Monat Fahrverbot. Inzwischen bin ich bei einem Kleinwagen gelandet, 3,60 Meter kurz, 980 kg leicht, 69 PS. Vor sieben Jahren als Neuwagen noch für unter 10 000 Euro gekauft, jetzt als Benziner nicht mehr im Modellprogramm.

Meine Frau ist mit 125 PS unterwegs, Viertürer mit Heckklappe, vier Meter lang. Ebenfalls ein Verbrenner, klingt heute fast wie „Verbrecher“, verbraucht aber im Schnitt nur sechs Liter E5-Treibstoff auf 100 Kilometer. Produziert in Brüssel. Audi, der deutsche Mutterkonzern, hat das Werk gerade erst dichtgemacht. Ein Nachfolgemodell wird auch nicht mehr hergestellt, der Vorstandschef hat das 2022 damit begründet, sich künftig auf die Produktion größerer Autos beschränken zu wollen. Damals wies das Ingolstädter Unternehmen 4,4 Milliarden Euro Gewinn aus. Von da an ging’s bergab, zuletzt auf 1,3 Milliarden Euro. Auch Porsche und die Konzernmutter VW befinden sich jetzt im Sinkflug.

Wir Babyboomer sind alt geworden. Wir sind autoaffin, können die Finger nicht vom Lenkrad lassen. In meiner Garage stehen nach wie vor 285 PS, genauer: Sie ruhen, werden nur an schönen Tagen bewegt, bald mit H-Kennzeichen und schon jetzt stets gemäß den Regeln der Straßenverkehrsordnung. Wir sind harthörig genug, um das ständige Gepiepse von irgendwelchen EU-verordneten Assistenzsystemen zu ignorieren, wenn wir wieder einmal das richtige Untermenü in unseren rollenden Smartphones versehentlich weggewischt haben.

Und wenn dann das angeblich so lang ersehnte vollautonome Fahren kommt, gehen wir vielleicht lieber mit der runderneuerten Deutschen Bahn auf die unterirdische Weiterfahrt durch den Stuttgarter Hauptbahnhof. Und wir erinnern uns, wie schön es war, 1975 mit 18 Jahren einen Führerschein zu besitzen und Auto fahren zu dürfen.

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