Jeder Fall, in dem Tatverdächtige wie jetzt in Stuttgart wegen überlanger Verfahren aus der Haft entlassen werden müssen, ist einer zuviel , kommentiert StZ-Autor Andreas Müller.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Es sind nur einzelne Fälle, aber jeder einzelne ist eine kleine Bankrotterklärung für den Rechtsstaat. Da machen Polizei und Staatsanwaltschaft ihre Arbeit, ermitteln mutmaßliche Straftäter und erheben Anklage – doch dann müssen dringend Tatverdächtige noch vor Prozessbeginn aus der Haft entlassen werden, weil sich die Verfahren bei Gericht zu lange hinziehen. So erhalten sie Gelegenheit zu fliehen oder, schlimmstenfalls, weitere Straftaten zu begehen. Jeder derartige Fall ist einer zu viel, das liegt auf der Hand.

 

Auf Warnsignale nicht genug reagiert?

Die beiden Fälle, die nun vom Landgericht Stuttgart bekannt werden, sind besonders gravierend – nicht nur, weil es um versuchten Totschlag geht. Nach den Beschlüssen des Oberlandesgerichts haben sich die Engpässe und die Freilassung schon länger abgezeichnet: Seit Monaten gab es Warnsignale, doch darauf sei nicht ausreichend reagiert worden. Das wirft brisante Fragen nach der Organisation des Landgerichts auf – aber auch nach der Personalausstattung der Justiz insgesamt. Reichen die zusätzlichen Richterstellen, die Justizminister Wolf erwirkt hat, wirklich aus? Das OLG meldet da Zweifel an. Wenn der Staat die Gerichte nicht angemessen ausstatte, mahnt es, müsse er seinen Bürgern eben erklären, warum mutmaßliche Straftäter freikommen. Für den Rechtsstaat wäre das indes ein Offenbarungseid.