Das Interesse an den neuen flexiblen Arbeitszeitregelungen, die seit Jahresbeginn in der Metall- und Elektrobranche gelten, ist größer als viele Firmen erwartet haben.

Wirtschaft: Imelda Flaig (imf)

Stuttgart - Ben Haugk ist vergangenes Jahr Vater geworden und will mehr Zeit für seinen Sohn haben. „Unser Kind entwickelt sich so rasant, dass ich mehr von ihm mitbekommen möchte“, sagt der 32-jährige Vater. Mit seiner Frau, die Projektmanagerin ein einer Softwarefirma ist, will er das Kind abwechselnd betreuen. „Wir wollten ihn beide nicht den ganzen Tag in eine Kita geben“, sagt Haugk. Sein Arbeitgeber hat das möglich gemacht. Haugk ist Produktmanager beim Ditzinger Maschinenbauer Trumpf, wo er im Bereich 3-D-Druck vor allem für die Arbeitsschritte vor und nach dem Druckprozess – dem sogenannten industriellen Teile- und Pulvermanagement – verantwortlich ist. Haugk nimmt dafür das flexible Arbeiten bei Trumpf in Anspruch und hat seit Jahresbeginn seine Arbeitszeit von 35 auf 25 Stunden in der Woche reduziert. Wenn sein kleiner Sohn in den Kindergarten geht, will er seine Stundenzahl wieder aufstocken. „Zeit ist ein wertvolles Gut. Deshalb möchte ich selbst entscheiden, womit ich sie verbringe“, sagt Haugk.

 

So wie er denken viele – nicht nur bei Trumpf, wo bereits 2011 eine Wahlarbeitszeit eingeführt wurde. Mehr Selbstbestimmung bei der Arbeitszeit gilt seit 1. Januar 2019 auch in tarifgebundenen Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie aufgrund des jüngsten Tarifabschlusses. Dabei zeigt sich, weniger ist für viele mehr. In Baden-Württemberg nehmen Beschäftigte, die kleine Kinder betreuen, Angehörige pflegen oder Schichtarbeit leisten lieber mehr Freizeit als Geld in Anspruch. Mehr als 50 000 haben einen Antrag auf eine Verkürzung ihrer Arbeitszeit um bis zu acht Tage pro Jahr gestellt und verzichten im Gegenzug auf ein tarifliches Zusatzentgelt von 27,5 Prozent eines Brutto-Monatsgehalts.

Die acht zusätzlichen freien Tage stoßen auf große Resonanz, wie eine Umfrage unserer Zeitung zeigt. Viele Firmen sind von der großen Anzahl der Anträge überrascht, manche bringt das so in Bedrängnis, dass sie die Ausfälle gar mit mehr Ferienjobbern oder Zeitarbeitern kompensieren müssen.

Elring-Klinger will mehr Ferienjobber einstellen

Beim Autozulieferer Elring-Klinger, dessen Chef Stefan Wolf als Südwestmetall-Vorsitzender bei den Tarifverhandlungen mit am Tisch saß, mussten Schicht- und Arbeitspläne überarbeitet und einige Mitarbeiter für neue Aufgaben geschult werden. Um die Ausfälle kompensieren zu können, würden in diesem Jahr mehr Ferienjobber eingestellt, sagt ein Unternehmenssprecher. Am Stammsitz Dettingen/Erms wurden rund 300 Anträge gestellt und fast alle genehmigt. Die meisten Mitarbeiter begründeten ihren Wünsche nach mehr Freizeit damit, mehr Zeit mit ihrer Familie verbringen zu wollen.

Beim Autozulieferer ZF sind allein am Standort Friedrichshafen mehr als 2000 Anträge von Beschäftigten eingegangen, die sich für die Option zusätzlicher freier Tage entschieden haben. „Der überwiegende Teil stammt von Mitarbeitern im Schichtbetrieb“, sagt ein Sprecher von ZF. In manchen Bereichen sei es durchaus „herausfordernd“, das entfallende Arbeitsvolumen auszugleichen. Der Zulieferer hat dazu eigens im Dezember mit den Arbeitnehmervertretern eine Betriebsvereinbarung geschlossen, um verschiedene Flexibilitätsinstrumente des Tarifvertrages zu nutzen.

Auch beim Mulfinger Ventilatorenhersteller EBM-Papst verzeichnet man eine „hohe Anzahl von Anträgen“, die die Kapazitätsplanung vor Herausforderungen stellt, wie ein Sprecher sagt. Beim Stuttgarter Dürr-Konzern, der im Inland 8200 Mitarbeiter beschäftigt, gingen 994 Anträge ein. Vor allem bei der Tochter Homag führt das zu Kapazitätsengpässen. In einigen Schichten führe das zu Personalknappheit, weshalb nicht alle Maschinen in der Fertigung optimal ausgelastet werden könnten. Den Wunsch nach mehr Freizeit begründeten Mitarbeiter mit Kindern vor allem damit, dass 30 Urlaubstage nicht ausreichten, um die Tage abzudecken, an denen Schule und Kindergarten in der Ferienzeit geschlossen hätten.

Lapp zahlt Stunden von Freischichtkonten aus

Beim Kabelhersteller Lapp haben im Werk Stuttgart 15 Mitarbeiter den Antrag auf tarifliche Freistellungszeit beantragt, wodurch 840 Stunden ausfallen, die mit Freischichtkonten verrechnet werden. Normalerweise könnten Mitarbeiter Stunden auf ihren Freischichtkonten abfeiern, jetzt gebe es auch die Möglichkeit, dass diese Stunden ausbezahlt würden. So gewinne man zusätzliche Kapazitäten. Ob das allerdings auch im nächsten Jahr ausreiche, sei fraglich, heißt es bei Lapp.

Nicht immer läuft es so konfliktfrei. Der Autozulieferer Marquardt in Rietheim/Weilheim hat seinen Mitarbeitern erst einmal den Wunsch nach mehr Freizeit verwehrt. Deshalb gab es auch reichlich Zoff, ehe der Betriebsfrieden wieder hergestellt war. Dabei sitzt Marquardt-Chef Harald Marquardt im Südwestmetall-Vorstand, der den Tarifvertrag ausgehandelt hat. Man habe sich mit Betriebsrat und IG Metall auf einen Kompromiss geeinigt, sagt ein Firmensprecher. Aufgrund der hohen Auslastung und vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels habe man vereinbart, dass Beschäftigte mit Kindern bis zu acht Jahren oder pflegebedürftigen Angehörigen anstelle von acht Tagen zusätzlicher Freizeit vier Tage erhalten. Dazu kommen noch 50 Prozent der tariflich vereinbarten Sonderzahlung, die dann 13,75 Prozent eines Bruttomonatslohns entsprechen. Schicht-Mitarbeiter, die 59 Jahre oder älter sind, könnten ebenfalls von der Regelung Gebrauch machen, so der Sprecher.

Auch bei Mahle wurden deutschlandweit rund 2100 Anträge für die Option Freizeit statt Geld gestellt und fast alle genehmigt. Man setze auf ein „partnerschaftliches Miteinander“, sagt eine Sprecherin. Bosch nennt dagegen keine Zahlen. „Wir fördern eine Arbeitskultur, die eine Balance zwischen beruflichem und privatem Engagement ermöglicht“, heißt es allgemein. Trotz einer hohen Nachfrage, insbesondere in der Fertigung, sei es an vielen Standorten gelungen, die Anträge auf zusätzliche freie Tage zu ermöglichen.

Daimler setzt auf Mehrarbeit und Zusatzschichten von Kollegen

Auch Daimler hält sich mit Zahlen zurück. Mit dem Betriebsrat liefen Gespräche, wie man die durch zusätzliche freie Tage wegfallenden Kapazitäten durch Mehrarbeit und Zusatzschichten ausgleichen könne, sagt ein Sprecher. Im Tarifvertrag stehe, dass für Unternehmen keine zusätzlichen Kosten entstehen dürften, dass es einen internen Ausgleich geben müsse und die freien Tage betrieblich umsetzbar sein müssten. Daimler-Personalchef Wilfried Porth wird deutlicher. In einem Interview sagte er, die Option zu mehr freien Tagen im Jahr hätten in dem Autokonzern viel mehr Schichtarbeiter beantragt als erwartet. „Das nimmt uns Kapazitäten weg, die durch Mehrarbeit und Zusatzschichten von anderen Kolleginnen und Kollegen ausgeglichen werden müssen.“ Es komme vor allem darauf an, die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe zu stärken, um die Beschäftigung während des Umschwungs in der Autoindustrie nachhaltig zu sichern, so Porth. „Wir müssen aufpassen, dass wir nicht von der Leistungs- zur Freizeitgesellschaft werden.“

In den meisten Betrieben seien tragfähige Lösungen gefunden worden. „Trotzdem ist die Unzufriedenheit über diesen Tarifvertrag in den Unternehmen sehr groß, denn der Verwaltungsaufwand ist selbst dann enorm, wenn der Betriebsrat konstruktiv mitarbeitet“, sagt Peer-Michael Dick, Hauptgeschäftsführer von Südwestmetall. „Das wird sich in den Folgejahren, wenn noch mehr Beschäftigte die freien Tage beantragen können, weiter verschärfen“, sagt er. Abzuwarten bleibe, wie sich die Akzeptanz des Modells entwickele, wenn die Konjunktur weiter abkühlen sollte. Er kritisiert auch die Arbeitnehmervertreter. „Teilweise wurde der Notwendigkeit, einen Ersatz für die entfallenden Arbeitstage zu schaffen, mit völligem Unverständnis begegnet“, sagt er. Anscheinend hätten einige Betriebsräte den Kern des Tarifabschlusses nicht richtig verstanden: nämlich bei der Arbeitszeit genauso Abweichungen nach oben zuzulassen wie nach unten.

IG Metall setzt auf Entgegenkommen der Arbeitgeber

Klagen über die Umsetzung kann Roman Zitzelsberger, Bezirksleiter der IG Metall Baden-Württemberg nicht nachvollziehen: „Beschäftigte arbeiten heute so flexibel wie nie zuvor, Mehrarbeit und Sonderschichten sind für sie eine Selbstverständlichkeit“, sagt er. Genauso selbstverständlich sollten jetzt die Unternehmen Entgegenkommen zeigen. „Sonst brauchen sie sich nicht wundern, wenn ihre Beschäftigten auch nicht mehr für zusätzliche Flexibilität zur Verfügung stehen.“