Die Autorin Katharina Adler und der Publizist Lothar Müller haben sich in Stuttgart von unterschiedlichen Seiten aus Freuds Psychoanalyse genähert und seine Theorie einer erhellenden Gesprächskur unterzogen.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Eine Couch, besser gesagt: einen Diwan sucht man vergebens. Es ist die gleiche Dingwelt wie in jeder Lesung: Wasserglas, Mikrofon, Pult, mäßig bequemes Gestühl. Und doch ist man dieses Mal versucht, hinter den Dingen anderes erkennen zu wollen: Diese längliche Karaffe, gleicht sie nicht einem männlichen . . . Sigmund Freud, dessen achtzigster Todestag in diesem Jahr begangen wird, hat die Herrschaft über das Stuttgarter Literaturhaus übernommen. Bereit zu allerlei freien Analogiebildungen, kann man das durchaus folgerichtig finden. Denn was ist ein Literaturhaus anderes als ein Ort öffentlicher Gesprächskuren, um Texten ihre verborgene Wahrheit zu entreißen?

 

Wo Freud herrscht, hat das Ich abgedankt. Einem bekannten Diktum des Begründers der Psychoanalyse zufolge ist es nicht mehr Herr im eigenen Hause, sondern wird regiert vom anstößigen Treiben in den unteren Stockwerken. Doch was für unser Bewusstseins gilt, das im Bild des Hauses Gestalt gewinnt, gilt auch für den Aufriss von Freuds Konzept selbst. Auf zwei verschiedenen Wegen fällt an diesem Abend Licht in die dunklen Ecken und Winkel, in denen sich bisher unentdeckte, höchst erzählenswerte Geschichten verborgen haben.

Der Germanist und Literaturchef der „Süddeutschen Zeitung“, Lothar Müller, liest diese Geschichten in seinem neuen Buch „Freuds Dinge“ den wechselnden Gegenständen ab, mit denen der Wiener Nervenarzt sein Theoriegebäude ausstaffiert und immer wieder umgeräumt hat. Die Autorin Katharina Adler wiederum erzählt in ihrem Roman „Ida“ über das Leben ihrer Urgroßmutter von den historischen Bedingtheiten und blinden Flecken der sich ausbildenden psychoanalytischen Methodik – unter dem Decknamen „Dora“ war sie eine der berühmten Patientinnen Freuds.

Aufstand der Dinge

Mit lässiger Assoziationsfreude moderiert der Schriftsteller Stephan Wackwitz die zweiteilige talking cure und weist zunächst auf die gute Nachbarschaft zwischen der Seelen-Novellistik psychoanalytischer Fallbeschreibungen und literarischen Verfahren hin. Im gedeckten Zwielicht von Poesie und Wissen entfesselt Lothar Müller in seiner für den Leipziger Buchpreis nominierten Freud-Lektüre dann den Aufstand der Dinge. Anders als von der Leitmetaphorik der damals neuen Wissenschaft nahegelegt, den archäologischen Bildern des Grabens und Freilegens, lässt sich der genau betrachtende Literaturwissenschaftler von den Oberflächen nicht ablenken. Den vertikalen Tiefenbohrungen stellt er eine horizontale Lektüre gegenüber, entlang der zeittypischen Alltagsobjekte, mit deren Hilfe Freud das sexuelle Grundmotiv seiner Lehre ausbuchstabiert hat.

Und so dringt man durch die Pforten der Schriften, Briefe, Abhandlungen in die Warenwelt der Wiener Moderne ein, in orientalisch aufgeputzte bürgerliche Interieurs, in die Jagdgründe der klassischen Bildung, die Werkstätten des technisch-industriellen Fortschritts. „Unser Zeug arbeitet an unseren Gedanken mit“, schreibt Müller. Auf der Bühne des Traums beleuchten Kerzen der Marke Apollo die geheimsten Wünsche junger Frauen, die Psyche wird in der Art eines Apparats konstruiert; Ventile regulieren den Überdruck andrängender Vorstellungen – und der österreichische Karnevalsbrauch des „Gschnas“, bei dem erhabene Themen mit banalen Mitteln zur Anschauung gelangen, modelliert das Verfahren der Hysterie, deren fantastische Ausschweifungen auf harmlosestem Erlebnismaterial beruhen. Im Bilder-, Metaphern- und Reklamereigen von „Freuds Dingen“ enthüllt sich der Gschnas der Theorie, eine erhitzte Ökonomie aus Verdichtungen und Verschiebungen zwischen Alltags- und Sozialgeschichte, aus deren Produktivität schließlich die erfolgreichste Marke der Psychoanalyse hervorgeht, der Ödipus-Komplex.

Männliche Deutungsmacht

Der Sitz des Psycho-Unternehmens war die mit dem berühmten Diwan eingerichtete Berggasse 19 in Wien. Hier klopft zu Beginn des letzten Jahrhunderts eine junge Frau an die Tür, die quälende und erfolglose Prozeduren bei verschiedenen Ärzten hinter sich hat, um von ihren nervösen Beschwerden geheilt zu werden. Damit geht die Erzählung an die Münchner Autorin Katharina Adler über.

Jene junge Frau ist ihre Urgroßmutter, deren Fall Gegenstand einer der großen psychoanalytischen „Novellen“ wurde: berühmt, weil Freud hier zum ersten Mal den Mechanismus von Übertragung und Gegenübertragung aufweisen konnte; berüchtigt, weil Ida Adler Opfer einer Behandlungspraxis wurde, die die Ursache aller Leiden lieber in den Überspanntheiten der weiblichen Gebärmutter suchte statt in den evidenten Tatsachen männlicher Übergriffigkeit.

Gegen die Fallschilderung Freuds im „Bruchstück einer Hysterie-Analyse“ schreibt die 1980 geborene Katharina Adler in ihrem Romandebüt „Ida“ an. Sie schildert die Hoffnungen und umso größeren Enttäuschungen ihre Urgroßmutter während der Kur, die sie nach elf Wochen selbstbewusst abgebrochen hat.

Wo Lothar Müller den zeittypischen Materialfundus rekonstruiert, dem die Sprache der Seele abgewonnen wurde, zeigt Katharina Adler deren historische Grenzen, das Geflecht aus männlicher Deutungsmacht und ökonomischen Abhängigkeiten. „Hat Freud den Missbrauch nicht gesehen oder konnte er ihn nicht sehen, weil er in der Pflicht seiner Auftraggeber stand?“, fragt sie im Literaturhaus. In ihrem Roman verfolgt sie eine eigene Strategie der Befreiung Idas aus den Händen paternalistischer Ärzte: Sie zeichnet das Porträt einer herben, eigenwilligen Persönlichkeit, die mit der Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie engstens verbunden war und sich mutig und zäh vor den Nationalsozialisten nach Amerika retten konnte. Fortan steht ihr Leben für mehr als nur den Umstand, Freuds Patientin gewesen zu sein. Aber gehört nicht genau das zum Kernbestand seiner Lehre? Dass man sich durch Erzählen befreit? Noch im Unbewussten der Theorie bestätigt sich die Triftigkeit ihrer Aussagen.

Lothar Müller: Freuds Dinge. Der Diwan, die Apollokerzen & die Seele im technischen Zeitalter. Die Andere Bibliothek. 420 Seiten, 42 Euro.

Katharina Adler: Ida. Roman. Rowohlt Verlag. 512 Seiten, 25 Euro.