Europa ist mehr als der Streit über die Bankenunion. Bei der Verleihung des Friedens-Nobelpreises an die EU gab es viel Lob für die deutsch-französische Aussöhnung. In Norwegen selbst ist die Union so unpopulär wie nie.

Oslo - Es sind zwei verschiedene Welten: die eine drinnen im festlich geschmückten Rathaus von Oslo, wo sich am Montag die Spitzen der EU-Hierarchie im Beisein von 20 europäischen Regierungschefs als Friedens-Nobelpreisträger huldigen ließen. Die andere draußen in der frostigen Hauptstadt des Außenseiterlandes Norwegen, dessen Bevölkerung zweimal in Referenden Nein zum EU-Beitritt gesagt hat und wo die Stimmung inzwischen so negativ ist, dass selbst die Europabewegung die Mitgliedschaftsdebatte für „tot“ erklärt: nur noch 18 Prozent sagten zuletzt in einer Umfrage, dass sie gern EU-Bürger wären – und das nach der Bekanntgabe der Entscheidung des Nobelkomitees, die die Europäische Union (EU) auch in Norwegen wieder einmal in die Schlagzeilen brachte.

 

Doch die Argumente, mit denen der Komiteevorsitzende Thorbjørn Jagland, Norwegens wohl eifrigster EU-Freund, im Rathaus die Preisvergabe begründete, kommen draußen vor den Mauern nicht an. „Was dieser Erdteil erreicht hat, ist wahrhaft fantastisch“, beschrieb Jagland den Weg vom „Kontinent des Krieges zum Kontinent des Friedens“; „in diesem Prozess war die EU die führende Kraft, und dafür verdient sie den Nobelpreis“.

Kritiker: „Die EU ist kein würdiger Gewinner“

Auch Hedda Langemyr, die Vorsitzende des norwegischen Friedensrates, gibt gerne zu, dass die Europäische Gemeinschaft „in historischer Perspektive“ ein Friedensprojekt sei. Aber heute? „Die EU steht für 32 Prozent des globalen Waffenhandels, ihre Wirtschaftspolitik schafft soziale Unruhe und Armut, ihr Handel mit der Dritten Welt ist von Eigeninteressen diktiert, und ihr Menschenrechtsprofil zeigt sich an der Abschottung der Außengrenzen“, zählt Heming Olaussen, der Chef von „Nein zur EU“, die Sünden des Friedenspreisträgers auf. So lautet sein Schluss: „Die EU ist kein würdiger Gewinner.“

Es ist allerdings auch nicht so, dass die Widersacher die Massen gegen die EU mobilisieren könnten. Die Großkundgebung am Vorabend der Preisvergabe, zu der ein Sammelsurium von 46 Organisationen gerufen hatte, brachte selbst nach großzügiger Schätzung nur 800 Demonstranten zusammen. „Es ist eben kalt“, entschuldigte Olaussen die spärliche Teilnahme, doch es war wohl nicht nur das Wetter. Die EU lässt die Norweger kalt, auch wenn ihre Hauptstadt für einen Tag mehr europäische Regierungschefs beherbergt hat als je zuvor.

Skeptiker wie Briten und Tschechen blieben dem Festakt fern

Der Kurzauftritt des Friedenstrupps im Feindesland unterstrich auch eher den Familienzwist als europäische Eintracht: Skeptiker wie Briten und Tschechen blieben dem Festakt fern, andere schlossen sich ohne Begeisterung an, als Angela Merkel mit ihrem „ich komme“ den Ton angeschlagen hatte – „ich setze mich doch nicht als Statist hin“, soll sich Frankreichs Präsident François Hollande über seine Zuschauerrolle mokiert haben, ehe er doch noch die gute Miene aufsetzte –, und die Anwesenden nutzten den „Arbeitslunch“ bei Norwegens Premier Jens Stoltenberg zur Abstimmung ihrer Positionen vor dem kommenden EU-Gipfel statt zum Nachdenken über ihre Friedensrolle. Ein paar Stunden später waren sie alle wieder weg.

Doch davor war die Feierstunde im Rathaus für all jene, die zuhören wollten, eine willkommene Erinnerung daran, dass Europa mehr ist als der Streit über Bankenunion oder Fischquoten. „Vielleicht wäre der Frieden auch ohne Union nach Europa gekommen“, sinnierte Ratspräsident Herman Van Rompuy, „vielleicht, wissen werden wir es nie. Aber er wäre nicht von der gleichen Qualität gewesen, dauerhafter Frieden statt frostigem Waffenstillstand.“ Der Belgier spann den Bogen vom deutsch-französischen Freundschaftspakt über die Römer Verträge bis hin zu Willy Brandts Kniefall in Warschau, der Geste von Altbundeskanzler Helmut Kohl, als dieser sich mit dem französischen Präsidenten François Mitterrand Hand in Hand gezeigt hatte. Diese Momente, so Van Rompuy, hätten Europa geheilt.

Mitten in der schwersten Wirtschaftskrise der letzten Jahrzehnte einen Preis vergeben?

„Die Versöhnung zwischen Deutschland und Frankreich ist vermutlich das dramatischste Beispiel der Geschichte, dass Frieden und Konflikt so schnell in Frieden und Kooperation verwandelt werden können“, sagte Jagland in seiner Laudatio, und Merkel und Hollande erhoben sich gerührt, um den tosenden Beifall entgegenzunehmen, der ihren Vorgängern galt. Das, was in den Monaten und Jahren nach dem Fall der Berliner Mauer geschah, nannte Jagland den „wohl größten Solidaritätsakt, den Europa je gesehen hat“, und dankte dafür spezifisch Altbundeskanzler Kohl. Und nun versuche die EU, auch am Balkan die Grundlage für dauerhaften Frieden zu schaffen.Dass all das einen Nobelpreis verdient hat, stellen auch die Kritiker nicht infrage. Doch just den Preis im Jahr 2012 vergeben, mitten in der schwersten Wirtschaftskrise der letzten Jahrzehnte? Es ist das Dilemma des Nobelkomitees, dass dessen Vorgänger in all den Jahren, in denen eine Zuteilung logisch gewesen wäre, die Ehrung verabsäumten: von 1951 für die Gründung der Kohle- und Stahlunion bis 2004, als schließlich acht ehemals sozialistische Länder, darunter Polen und Tschechien, dem Bündnis beitraten.

Im Blick nach vorne blieben die EU-Spitzen vage. Parlamentspräsident Martin Schulz warnte davor, das Erbe der Gründerväter aufs Spiel zu setzen. Kommissionspräsident José Manuel Barroso versprach denen, die zweifeln, ob die EU dem Erbe des Preisstifters Alfred Nobel genüge, einen weltweiten Einsatz für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit. Van Rompuy stellte in Aussicht, dass die EU „gemeinsam und gestärkt“ aus der gegenwärtigen Krise treten werde. Auch die nächste Generation solle stolz sagen können: „Ich bin ein Europäer.“ Doch kaum ein Volk fühlt sich so wenig als Europäer wie die Norweger – und aus dem Festsaal sprang kein Funke über.