Wider die Geschichtsvergessenheit: Mit der Friedenspreisverleihung an die beiden Kulturwissenschaftler Aleida und Jan Assmann geht in Frankfurt eine eminent politische Buchmesse zu Ende.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Näher an der Wirklichkeit kann eine Buchmesse nicht sein. Beharrlich hat der Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Heinrich Riethmüller, bei jeder sich bietenden Gelegenheit darauf hingewiesen, dass er die seine Branche betreffenden Nöte in ein umfassenderes, unser Zusammenleben im Ganzen betreffendes Bedrohungsszenario eingebettet sieht. Und so ist auch sein Grußwort an die beiden diesjährigen Friedenspreisträger Aleida und Jan Assmann in dem für die schwierige Demokratiegeschichte Deutschlands zentralen Gedenkort der Frankfurter Paulskirche mehr als eine bildungsbürgerliche Sonntagspredigt. Riethmüller geht noch einmal den Katalog der Menschenrechte durch, deren siebzigjähriges Jubiläum sich wie ein mahnender roter Faden durch die Verlautbarungen der Messe zog. In der Charta träfen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufeinander, denn nur durch Erinnerung könne verhütet werden, dass künftige Generationen dieselben Fehler noch einmal begehen.

 

Das geehrte gelehrte Paar Aleida und Jan Assmann hat sich der Frage verschrieben, wie Kulturen mit ihrer Vergangenheit umgehen, wie Traditionen entstehen, welchen Techniken, Interessen und Konstruktionen sich verdankt, was dem Selbstverständnis von Gesellschaften zugrundeliegt. In Zeiten, in denen sich Menschheitsverbrechen in einen Vogelschiss zu verwandeln drohen, wird in diesem Jahr also ein wissenschaftliches Lebenswerk gewürdigt, das, wie es in der Begründung heißt, darauf hinweise, dass ein offener und ehrlicher Umgang mit der Vergangenheit die grundlegende Bedingung für ein friedliches Miteinander sei. Ein anderes Jubiläum bleibt in diesem Festakt allerdings merkwürdig ausgespart. Vor zwanzig Jahren hielt Martin Walser am selben Ort seine berüchtigte Rede, worin er vor einer Instrumentalisierung deutscher Schuld zu warnen müssen glaubte, und mit Wendungen wie der „Monumentalisierung unserer Schande“ jenen zumindest Formulierungshilfe leistete, von denen Riethmüller die freie Gesellschaft heute bedroht sieht.

Keine Rede von Martin Walser

Einen Fall der damnatio memoriae, der Auslöschung aus der Erinnerung, greift auch der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht in seiner sonst launige Brücken zwischen Lebensform und Profession schlagenden Laudatio auf. Ohne ihn namentlich zu nennen, spielt er auf den Konstanzer Romanisten Hans Robert Jauss an, aus dessen lange verschwiegener Mitgliedschaft in der Waffen-SS er ganz andere Schlüsse gezogen habe als Aleida Assmann: Während er selbst Jauss aus seinem Gedächtnis gestrichen habe, sehe die befreundete Kollegin darin ein „Bedürfnis nach Dekontamination“ am Werk. Man könne aber nicht einfach in einem Gebäude einen Stahlträger beseitigen, ohne dass das Ganze einzustürzen drohe. Beide Positionen sind nachvollziehbar und gemeinsam Teil einer differenzierten Sicht. Listig zeigt der Stanford-Professor Gumbrecht in dieser Dissens-Anekdote den Forschungsgegenstand der Geehrten, das kulturelle Gedächtnis, in Aktion. Denn dieses ist nichts Festes, vielmehr Gegenstand permanenter Auseinandersetzungen.

Wie elegant und klug man geisteswissenschaftliche Debatten aus dem, was man heute vielleicht akademische Filterblase nennen würde, ins Herz unserer alltäglichen Wirklichkeit spielen kann, führen Jan und Aleida Assmann in ihrer gleichsam zweistimmig vorgetragenen Dankesrede vor. Was als Geistergespräch mit früheren Paulskirchenpaarungen beginnt, endet mit einer scharfsichtigen höchst aktuellen Beschreibung der Gegenwart und liefert damit gleichzeitig den Beweis, wie fruchtbar der Dialog und der Austausch über die Zeiten und Generationen hinweg sein kann. Nichts anderes meint der Begriff kulturelles Gedächtnis.

Ein Dialog zum Beispiel mit dem Philosophen Karl Jaspers. Dessen Deutung der Öffentlichkeit als einer Kampfzone, in der sie die Wahrheit unablässig gegen die Unwahrheit behaupten muss, nehmen die Assmanns unter den Bedingungen des digitalen Zeitalters wieder auf. Die Sphäre der grenzenlosen Kommunikation habe der Datenmanipulation Tür und Tor geöffnet. „Bald wird man buchstäblich jedem alles in den Mund legen können, und keiner kann mehr beurteilen, wer der Urheber einer Meinung in Wirklichkeit ist.“ Doch ein friedliches Zusammenleben sei auf Wahrheit, Verbindlichkeit und Glaubwürdigkeit angewiesen. Hier endet denn auch für die Wissenschaftler das Feld des eine Demokratie belebenden Streits. Es bedürfe eines unverrückbaren Grundkonsenses: „Nicht jede Gegenstimme verdient Respekt. Sie verliert diesen Respekt, wenn sie darauf zielt, die Grundlagen für Meinungsvielfalt zu untergraben.“

Kulturen lassen sich nicht in nationale Grenzen sperren

Ein anderes Vorgängerpaar waren die schwedischen Sozialwissenschaftler Alva und Gunnar Myrdal. Wo sie bestrebt waren, das Prinzip des Wohlfahrtsstaats auf eine „Wohlfahrtswelt“ zu übertragen, dominiere heute unter den Slogans „America First“ oder „Festung Europa“ die Entsolidarisierung mit Schwächeren und der Hass auf Fremde. „Es kann nicht angehen, dass es eine neoliberale Freiheit für die Bewegung von Kapital, Gütern und Rohstoffen gibt, während Migranten an Grenzen festhängen und wir die Menschen, ihr Leid und ihre Zukunft vergessen.“

Das sind deutliche Worte, die klar Stellung beziehen. Doch die lichte, menschenfreundliche Ausrichtung des Konstanzer Forscherpaars hält sich nicht nur an dem Fehlgehenden auf, sondern benennt auch drei hoffnungsvoll stimmende Beispiele: eine Initiative, die Zuwanderern bei der Arbeitsvermittlung hilft; Berliner Lehrer die zusammen mit syrischen Kollegen traumatisierte Kinder auf das Gleis einer geordneten Schulbildung helfen; ein österreichisches Ehepaar, dass in Kenia eine Schule aufgebaut hat. Diesen drei Projekten spenden die Assmanns das Preisgeld von 25000 Euro. So praktisch können Geisteswissenschaften sein.

Das Erbe, auf das sich die Identitätsapostel gerne berufen, zeigt sich hier als etwas Durchlässiges. „Kulturen verwandeln sich, gehen ineinander über und inspirieren sich. Sie lassen sich weder stillstellen noch in nationale Grenzen einsperren.“ Und wenn es ein Kriterium für die Wahrheit außerhalb ihrer selbst geben mag, so findet das Friedenspreispaar es in einem Wort von Karl Jasper, mit dem ihr Vortrag endet: „Wahr ist, was uns verbindet.“ Zwanzig Jahre nach Martin Walsers fatalem Auftritt wird man künftig mit dem Begriff Paulskirchenrede wieder einen Höhepunkt nicht einen Tiefpunkt in der Erinnerungskultur des Landes verbinden.