Immerzu ist irgendwas. „Empört euch“, lautet daher eine populäre Forderung. So wollen es auch das Internet und andere Medien in ihrer Funktion als Dauerentrüstungsmaschinen. Aber wo bleibt bei der ewigen Aufregung der innere Friede?

Kultur: Adrienne Braun (adr)

Stuttgart - Es ist wirklich ganz einfach. Tief durchatmen. Abwarten und Tee trinken. Fünfe gerad sein lassen, Abstand kriegen, sich auf das Wesentliche konzentrieren. Aber wenn man dann gerade im Reinen mit sich ist, wenn man seine Mitte und den Seelenfrieden endlich gefunden hat, dann kommt garantiert ein Unruhestifter vorbei, der in einer Wunde wühlt, sich vordrängelt, einen übersieht, herabsetzt. Nur eine kleine Kritik, Kränkung oder Beleidigung – und schon tobt man innerlich, überschwemmen einen Wut, Hass, Zorn – und würde man am liebsten in die Welt hinausschreien: Nicht mit mir! Euch werd ich Mores lehren!

 

Aber, aber – wer wird denn gleich in die Luft gehen? Jeder. Denn so einfach es ist, am Stammtisch die Welt zu retten und Patentrezepte für sämtliche Konflikte dieser Erde zu entwickeln, so schwer ist es, den inneren Frieden zu finden. Deshalb geht man ins Yoga oder macht eine Psychotherapie, man versucht sich in Achtsamkeitsübungen, betet oder meditiert. Die einen gehen zum Schweigen ins Kloster, die anderen zu kontemplativen Exerzitien.

Aber selbst jene, die nicht gezielt danach streben, hätten sicher nichts gegen Seelenruhe und inneren Frieden. Jeder wünscht sich, was schon im „Historischen Wörterbuch der Philosophie“ zwischen Geiz und Geld steht: Gelassenheit. Die hat allerdings ihren Preis, denn zur Gelassenheit, behauptete der Philosoph Wilhelm Weischedel, gehöre Verzicht und „so etwas wie Abschied“. Der Begriff Gelassenheit verrät es ja auch: Man muss loslassen können, mal etwas weglassen oder einiges auch ganz und gar bleiben lassen. Vor allem: man müsste andere so lassen können, wie sie nun mal sind.

Disput und Wortgefecht – Fehlanzeige

Bloß, worüber reden, wenn es nichts zu lästern, schimpfen, klagen gibt? Gelassenheit kann eine verdammt fade Angelegenheit werden. Der ganz in sich ruhende Mensch taugt kaum zu Disput und Wortgefecht. Um gelassen zu werden, meinte der spätmittelalterliche Theologe Meister Eckhart, müsse man sich vollkommen von der Welt, seinem Ich und sogar von seinem Gottesglauben lösen, sich auf höhere Mächte verlassen und sich dabei selbst aufgeben und auf den eigenen Willen verzichten. Anders gesagt, man müsste das Irdische seinem Lauf überlassen. Den Vertretern des Sturm und Drangs wäre die Vorstellung einer solchen Gelassenheit ganz und gar suspekt gewesen. Sie setzten explizit auf das Gefühl, auf die innere Teilnahme – und wandten sich gegen „kalte Gelassenheit“, wie Karl Philipp Moritz es nannte.

Denn Gefühle, ob positiv oder negativ, können Antrieb und Anreiz zum Handeln sein. Unzufriedenheit, Neid, Konkurrenz, gekränkte Eitelkeit sind Motoren der eigenen und gesellschaftlichen Weiterentwicklung. Wer sich reibt an Dingen, will sie eher verändern als jener, der sie mit Nachsicht relativiert. „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen“, heißt es bei Goethe. Letztlich ist Fausts Credo auch die oberste Maxime der Leistungsgesellschaft, die auf aktives Handeln des Einzelnen setzt. „Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran“, sang die Gruppe Fehlfarben in den Achtzigern als Kommentar zu einer Gesellschaft, in der das Tun höher angesehen ist als das Bleibenlassen. In ihr gilt nicht als Tugend, Milde walten zu lassen, sondern im Gegenteil den Fokus auf Missstände zu richten, zu kritisieren, sich zu positionieren und zu engagieren. „Empört euch!“, lautet die Parole. Es gibt viel zu tun, packen wir’s an!

Gelassenheit wäre da eher hinderlich. Herausforderungen sind schließlich dazu da, sie anzunehmen. Die Hoffnung auf Sieg und Triumph ist süßer als die fast langweilig anmutende Ataraxia, wie die alten Griechen Seelenruhe und Gelassenheit nannten. Sosehr man sich nach innerer Ruhe sehnen mag, so stark ist auch der Wunsch nach starken Emotionen, keineswegs nur nach positiven, sondern auch nach Angst und Gefahr, nach Kampf und Grenzerfahrungen.

Süßer als sanfte Seligkeit

Die einen befriedigen ihre Sehnsucht nach dem Thrill vielleicht nur beim „Tatort“ oder der Krimilektüre, andere machen Bungee-Jumping oder fordern den Tod mit Hochgeschwindigkeit heraus. Zu siegen – ob über Widrigkeiten, andere Menschen oder sich selbst – scheint süßer zu sein als sanfte Seligkeit.

Und so kämpft man in den Yoga-, Achtsamkeits- oder Atemkursen nicht nur gegen die eigenen Emotionen, die bei Kränkungen oft schneller brodeln, als einem lieb ist, sondern man atmet auch gegen eine sehr lange kulturelle Tradition an. Allein auf den Bühnen wird seit Jahrhunderten appelliert zu kämpfen und kritisieren, gesellschaftliche Missstände zu erkennen, benennen und verändern. Das „Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist“ wird dagegen bestenfalls in der Operette in Champagnerlaune geträllert.

Gute Medizin fürs Seelenwohl

Dabei wäre Gelassenheit an der richtigen Stelle eine sehr gute Medizin fürs eigene Seelenwohl. Sie wäre durchaus eine Tugend in dieser Gesellschaft, der es letztlich sehr gut geht – so gut, dass man sich nicht ernsthaft echauffieren müsste, weil es im Restaurant mal nicht schnell genug geht oder nur ein billiger Cabernet Sauvignon auf der Karte steht. Aber irgendetwas treibt uns dann doch immer wieder dazu, uns zu empören, zu ärgern, auf die Palme zu bringen oder das Schlimmste anzunehmen. Das Unken hat sogar Hochkonjunktur, denn wer nicht stets das Schlechteste denkt, so der moderne Aberglaube, der wird schon noch sein blaues Wunder erleben.

Wie sie sich eigentlich fit halte, wurde Hildegard Knef einmal gefragt. „Ich laufe Amok. Jeden Tag!“ Für den modernen Wutbürger mag das ein Indiz sein, dass sie ein kritischer, politischer Geist war. Für den vietnamesischen Mönch Thich Nhat Hanh wäre es dagegen nur ein weiterer Beleg, dass die Welt eben ist, wie sie ist – mit all ihren Krisen und Kriegen. Wer keinen Frieden in sich selbst gefunden hat, ist Thich Nhat Hanh überzeugt, der kann auch nicht zum Friedenswerkzeug werden.