Der Stuttgarter Dirigent Frieder Bernius wird 65 Jahre alt – ans Aufhören denkt er noch lange nicht, wie er im StZ-Gespräch verrät.

Stuttgart – Seit mehr als vierzig Jahren gehört Frieder Bernius mal mehr, mal weniger mit den Bedingungen seiner Stadt versöhnt, zur Stuttgarter Musikszene. Sein Kammerchor ist in Europa und weit darüber hinaus ein Markenzeichen höchster Chor- und Klangkultur, die historische Aufführungspraxis hätte ohne Bernius in Stuttgart keinen Anwalt.
Herr Bernius, Sie werden heute 65. Ich nehme an, rentenversicherte Rückzugspläne haben Sie nicht. . .
Wohl wahr, denn als Dirigent weiß man erst im Alter, was Sache ist – das möchte ich schon noch ein bisschen ausnutzen.

Wie geht es mit dem Musikpodium weiter? Seit einigen Jahren hat man den Eindruck, da bäumt man sich alle zwei Jahre mit dem Festival Stuttgart Barock noch mal auf, aber eigentlich fehlt etwas der Lebenssaft.
Na ja, immerhin haben wir in der letzten Saison vierzig Konzerte gegeben: 17 in Baden-Württemberg und der Restrepublik, 18 innerhalb und außerhalb Europas (Nordamerika und Asien) und erstmals fünf Abokonzerte in Stuttgart mit zwei Ur- und mehreren Erstaufführungen, außerdem das Open-Air-Konzert auf Schloss Solitude und das Festival Stuttgart Barock. Aber klar: das Musikpodium ist unterfinanziert, das ist nichts Neues. Außerdem ist zurzeit durch den niedrigen Zinssatz bei Stiftungen nicht viel zu bekommen. So müssen wir im Augenblick kleinere Brötchen backen.

Ihr Chor, der Stuttgarter Kammerchor, ist ein Telefonchor.
Oh, nein, so nicht: es ist ein Projektchor . . .

.. . .und er ist an manchen Abenden derart überirdisch gut, dass mancher auf den Gedanken kommen könnte: wozu noch fixe Chorbesetzungen, warum braucht man ein SWR-Vokalensemble?
Das braucht man vor allem für Neue Musik, die kann man mit einem Projektchor nicht regelmäßig machen. Aber ich weiß wohl, warum ich einen Chor leite wie den meinen, und warum ich mich nicht an ein institutionelles Ensemble binde: weil ich selbst entscheiden kann, welche und wie viele Sänger mitmachen sollen. Ich weiß zudem, dass ein Projektchor im Gegensatz zum SWR keine soziale Absicherung bieten kann. Ich wende mich daher nur an Freiberufler. Deshalb ist die Fluktuation bei uns relativ hoch. Andererseits kann ich anders arbeiten, zum Beispiel mit einzelnen Sängern Korrepetitionsstunden machen, wie es mir bei Profichören nicht erlaubt würde.

Andererseits hört man auch, dass Sie mit Ihren Sängern nicht gerade zimperlich umgehen.
Hoppla!

Da sollen Projekte oft hart an der Grenze zur Ausbeutung gefahren werden. Wie bekommt man da die oft künstlerisch grundierte humane Botschaft (Beethoven: „Von Herzen – möge es wieder zu Herzen gehen“), die man singend verbreitet, in Einheit zum eigenen Handeln? Alles um der Kunst willen?
Als wir vor dreißig Jahren den Deutschen Chorwettbewerb gewonnen haben, waren sofort Neider da und haben gesagt, das kann doch nicht mit rechten Dingen zugehen. Um eine Hochleistung zu erreichen, kann aber ein Kompromiss nicht das erste Ziel sein, das glaube ich schon. Mag sein, dass ich der Felix Magath der Chorszene bin. Interessiert Sie Fußball?

Wenig.
Egal. Der Magath steht zu seinem System, auch wenn er mal verliert. Ich habe auch ein System, wie ich Sänger und Musiker zu einem einheitlichen Klang bringen kann, und ich suche nach denjenigen, die dazu passen. Aber wenn Sie mit „Ausbeutung“ die finanzielle Seite meinen – da haben Sie recht! Da Sänger und Musiker, die von der historischen Aufführungspraxis herkommen, in der Regel nicht in Stuttgart oder der näheren Umgebung wohnen, müssen die Proben komprimiert werden, immer zwei mal drei Stunden am Tag. Aber das wissen diejenigen, die mit mir arbeiten wollen. Ich möchte in dem Zusammenhang meinen Kollegen Helmuth Rilling sinngemäß zitieren: „Ich arbeite am liebsten mit Musikern zusammen, die sich von selbst entschieden haben, an einem Projekt teilzunehmen“. Das ist ein Riesenvorteil, denn dann gibt es nicht das Problem, dass der eine motiviert ist und der andere nicht. Nur so kann ich künstlerisch sinnvoll arbeiten.

Warum halten Sie sich nicht mehr an die wirklich großen Komponisten: Schütz, Bach, Haydn, Mozart, Mendelssohn, Brahms?
Nun, in der letzten Saison hatten wir repräsentative Werke von Bach, Gluck, Mozart, Beethoven, Schubert und Brahms im Programm. Ich reiße mich nicht darum, Mozart-Opern aufzuführen oder mit Orchestern auf modernen Instrumenten historische Aufführungspraxis zu trainieren. Und außerdem: in vielen Inszenierungen gerade von Repertoire-Opern kann die musikalische Seite nicht die Rolle spielen, die ich mir wünsche – auch in den allermeisten Kritiken wird sie nur am Rande erwähnt.

Sie machen doch nicht Musik für Kritiker.
Manchmal schon . . . Aber ich habe das große Glück, selbst entscheiden zu können, welche Programme von meinen Ensembles aufgeführt werden. So finde ich es nicht reizvoll, als Gast zu arbeiten.

Sie sind ein eifriger Sucher, Ausgräber und befahren gerne Nebengleise – aber man wird wohl doch selten Entdeckungen machen, die an die großen Sachen heranreichen.
Auf Monteverdi oder Zelenka wären wir wohl ohne ihre Zentenarfeiern nicht gestoßen. Mir macht es wahnsinnig Spaß, in neuen Partituren harmonische, rhythmische und melodische Zusammenhänge zu lesen, die ich noch nicht kenne. Und herauszufinden, was das Besondere bei einem Komponisten wie Danzi ist, dessen „Berggeist“ wir neulich ausgegraben haben.

Ihr ästhetischer Antipode hier in Stuttgart, Helmuth Rilling, tritt bald ab. Ändert sich für Sie dadurch etwas?
Ja, die künstlerische Konkurrenz mit der Bachakademie wird zunehmen. Hans-Christoph Rademann wird zumindest mittelfristig auf die historische Aufführungspraxis setzen – man kann im Weihnachtsoratorium die Hirtenarie einfach nicht mehr mit einer Querflöte spielen lassen, das muss eine Traversflöte sein. Aber ich stelle mich dieser Situation, ich werde wahrscheinlich 2013 mein erstes Weihnachtsoratorium leiten – populärer geht’s doch nicht, oder?