Waren Sie ein guter Marxist?

 

Nein, ein miserabler. Nur, als alle von der Abschaffung des Kapitalismus redeten, fragte ich mich, was ist das überhaupt, der Kapitalismus? Ich wollte hinter diese Formel kommen und dachte dabei ziemlich bald an die Form der Satire, an die Rhetorik einer Festschrift. Die künstlerische Frage war, wie kriege ich die Sprache der Wirtschaft in die Literatur?

Sie haben nicht nur von der Geschichte der Achtundsechzigerbewegung, sondern auch vom Deutschen Herbst 1977 erzählt, in der Roman-Trilogie "Ein Held der inneren Sicherheit" (1981), "Mogadischu Fensterplatz" (1987) und "Himmelfahrt eines Staatsfeindes" (1992). Wie kommen Ihnen heute jene sechs Wochen vor?

Es war ein tiefer Einschnitt in der Geschichte der Bundesrepublik. Diese Konfrontation hat alle schockiert, Schreckstarre auf beiden Seiten. Aber ich denke, dass die RAF schon seit 1970 fatal gewirkt hat. Wir haben seit damals das strikte Sicherheitsdenken, Personenschutz, Überwachung und so weiter, alles das, was den Staat für den Bürger so ungemütlich macht. Die Gemütlichkeit war weg, es war eine Härte im Land, die alle erschreckt hat, eine allgemeine Verfeindung.

Wo standen Sie damals?

Sie wurden 1943 hier in Rom geboren. Lassen Sie uns über Ihre Generation sprechen. Man hat im Nachhinein den Eindruck, dass die Beschäftigung mit deutscher Geschichte für Ihre Generation unausweichlich war.

Ja, aber das hatte ich mir nicht vorgenommen, das wäre ja größenwahnsinnig gewesen. Es war immer eine aktuelle Neugier, die mich zu einem Thema trieb. Ich entdeckte zufällig bei einer Freundin die Protokolle einer Wirtschaftstagung der CDU 1965 und staunte darüber, wie da gesprochen wird, welche Sätze dort fallen, das war die traditionelle Unternehmerwelt, Ludwig Erhard-Zeit. Aus dem Staunen heraus, wie andere Leute reden und ihre Interessen vertreten, ist dann der Gedanke entstanden: daraus musst du was machen! Es entstand dann die "Dokumentar-Polemik": "Wir Unternehmer. Über Arbeitgeber, Pinscher und das Volksganze". Bei meiner Siemens-"Festschrift" war es auch Neugier. Was ist das für eine Firma, was hat die 1933 bis 1945 gemacht, wie sieht es hinter den Fassaden aus?

Es gibt drei stark autobiografische Bücher von Ihnen, die in drei Zeiträumen spielen und in denen Sie, fast wie im Krebsgang, Ihr Leben erschrieben haben. Zuerst der Roman "Amerikahaus und der Tanz um die Frauen" von 1997, das spielt 1966 in Berlin; dann 1994 die Erzählung "Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde", damit ist das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft von 1954 gemeint. Und, als Nachzügler, 2006, die Erzählung "Bildnis der Mutter als junge Frau", da erleben wir in Rom im Jahr 1943 eine hochschwangere junge Frau. Drei Zeiten, drei Stationen Ihres Lebens: Kriegszeit, Nachkriegszeit und dann die sechziger und siebziger Jahre. War das geplant?

Kein Plan. Aber tatsächlich waren alle drei Bücher der Versuch, unverhüllt von mir und meinen Eltern zu erzählen.

Wie ging es denn dem jungen Studenten Delius 1966 in Berlin?

Der kam aus der Provinz, studierte Literatur und wollte Redakteur werden oder Lektor. Ansonsten war er eher ängstlich und nur halb dabei, als vor dem Westberliner Amerikahaus die Eier flogen. Aber wie ich, glaube ich, war die Mehrheit. Wir waren moralisch empört, aber hielten uns bei Aktionen zurück. Das war ja eine durchgängige Frage in der Studentenbewegung: Wie weit durfte man gehen?

Nach Ihrem Studium wurden Sie tatsächlich Lektor: erst im Wagenbach Verlag, anschließend im Rotbuch Verlag, einer Abspaltung des Wagenbach Verlags. In dieser Zeit, 1972, erschien ein Buch von Ihnen, das Aufsehen erregte, die satirische Festschrift "Unsere Siemens-Welt", eine Mischung aus vorgefundenen und erfundenen Dokumenten. Siemens hat Sie und den Verleger Klaus Wagenbach verklagt.

Nein, da stehen keine erfundenen Tatsachen drin. Ich habe nur Material benutzt, das bereits woanders veröffentlicht war, allerdings ohne dessen Wahrheitsgehalt noch mal zu überprüfen. Wir mussten nach einem dreijährigen Prozess einem Vergleich zustimmen und neun von neunzehn beanstandeten Details ändern. Der moralische Sieg war unser, für Siemens war es eine Imageniederlage, weil das ständig durch alle Zeitungen ging. Ich wurde also verurteilt wegen juristischer Unkenntnis, aber nicht wegen Fälscherei. Der schärfste Kritiker der Stuttgarter Urteile war übrigens der ehemalige OLG-Präsident Richard Schmid, der war hundertprozentig auf meiner Seite.

Delius über die RAF

Waren Sie ein guter Marxist?

Nein, ein miserabler. Nur, als alle von der Abschaffung des Kapitalismus redeten, fragte ich mich, was ist das überhaupt, der Kapitalismus? Ich wollte hinter diese Formel kommen und dachte dabei ziemlich bald an die Form der Satire, an die Rhetorik einer Festschrift. Die künstlerische Frage war, wie kriege ich die Sprache der Wirtschaft in die Literatur?

Sie haben nicht nur von der Geschichte der Achtundsechzigerbewegung, sondern auch vom Deutschen Herbst 1977 erzählt, in der Roman-Trilogie "Ein Held der inneren Sicherheit" (1981), "Mogadischu Fensterplatz" (1987) und "Himmelfahrt eines Staatsfeindes" (1992). Wie kommen Ihnen heute jene sechs Wochen vor?

Es war ein tiefer Einschnitt in der Geschichte der Bundesrepublik. Diese Konfrontation hat alle schockiert, Schreckstarre auf beiden Seiten. Aber ich denke, dass die RAF schon seit 1970 fatal gewirkt hat. Wir haben seit damals das strikte Sicherheitsdenken, Personenschutz, Überwachung und so weiter, alles das, was den Staat für den Bürger so ungemütlich macht. Die Gemütlichkeit war weg, es war eine Härte im Land, die alle erschreckt hat, eine allgemeine Verfeindung.

Wo standen Sie damals?

Undogmatisch links, gegen Gewalt. Ich erinnere mich an die Befreiung Baaders aus der Haft, 1970. Er saß wegen Brandstiftung, und ich dachte mir, wenn einer aus politischen Gründen ein Kaufhaus anzündet, dann soll er doch auch die Strafe dafür annehmen. Ich war schon damals altmodisch gestrickt, protestantisch, kleistisch.

Es soll damals viele Sympathisanten der RAF gegeben haben, bis in links-bürgerliche Kreise hinein.

Höchstens bis 1972, solange Ulrike Meinhof unterwegs war. Ansonsten wurde die RAF von den Linken heftig kritisiert. Sie war ein winziges Randphänomen der Achtundsechziger-Bewegung mit maximaler Medienwirkung, aber sie wird uns bis heute um die Ohren gehauen.

Der Historiker und Journalist Götz Aly sagt, in bestimmten Äußerungsformen hätten die Achtundsechziger und vor allem die RAF den Nazis geähnelt.

Das ist Pauschalkäse. Jede politische Aufbruchsbewegung in der Geschichte hat Züge des Größenwahns und ihre Dogmatiker. Ich finde zur Erklärung der RAF Michael Schneiders These, dass es sich um eine Kohlhaas-Selbstjustiz gehandelt hat, viel produktiver: Söhne und Töchter richteten über ihre Eltern, weil deren Entnazifizierung nicht stattgefunden hat.

Womit wir bei der Zeit wären, die Achtundsechzig möglich und nötig gemacht hat: Die fünfziger Jahre waren die Zeit des eisernen Schweigens. Im zweiten Ihrer autobiografischen Bücher, "Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde", herrscht dieses Nachkriegsschweigen. Der Titel nimmt Bezug auf das legendäre Weltmeisterschaftsendspiel in Bern vom 4. Juli 1954. Im stillen osthessischen Dorf Wehrda sitzt an diesem Nachmittag ein elfjähriger Junge, Pfarrerssohn, im Amtszimmer des Vaters, wo er die Radioübertragung hören darf. Wie sieht das Selbstporträt als elfjähriger Junge aus?

Das ist der, der unter besonderer Beobachtung steht, nach dem Motto "Pfarrers Kinder, Müllers Vieh geraten selten oder nie". Das ist auch der, von dessen Verhalten auf das der Familie geschlossen wird. Er wird also vorsichtig und leise. Ich war ängstlich, ich war leise und ich habe gestottert. "Der stille Delius", nannte mich der Lateinlehrer, kaum dass ich ins Gymnasium gekommen war. Das war mir unbehaglich. Es hat lange gedauert, bis ich akzeptieren konnte, dass ich weniger redete als die anderen.

Eine schwierige Doppelrolle

Wie fand das Ihr eigener redegewandter Pfarrer-Vater?

Ich führe mein Verhalten ja im Buch darauf zurück, dass der Vater die Wortmacht hatte. Der Vater kann dem ganzen Dorf diktieren, was gut und richtig ist, und er spricht immer als Vertreter des Vaters im Himmel und für mich auch als mein leiblicher Vater - für das Kind eine ganz schwierige Doppelrolle. Als Kind denkt man darüber nach und findet keine Erklärung. Also schweigt man. Es war für mich teilweise eine fürchterliche Zeit. Ich suchte meine Fluchten. Die eine ging in Richtung Sportplatz oder in die Wälder, raus, frische Luft, die andere Flucht führte in die Welt der Bücher. Später sagte ich mir, wer schweigt und stottert, mag ein besonderer Liebhaber der Sprache sein.

Man hat als Leser dieser Erzählung über das Berner WM-Spiel den Eindruck, dass der elfjährige Junge während des Spiels ein paar Zentimeter größer wird.

Ich habe in diesem Buch versucht, so autobiografisch wie möglich zu sein und die Gefühle zu beschreiben, die ich damals hatte. Wie mir das Bein zuckte, als Rahn schießen sollte. Ja, der Junge ist an diesem Sonntag ein Stück gewachsen.

Elfeinhalb Jahre vor diesem Sonntag, da waren Sie noch gar nicht auf der Welt, betrachten wir noch ein Porträt, nämlich das "Bildnis der Mutter als junge Frau". Wie kam es dazu?

Nach dem Weltmeister-Buch, das ja auch ein Buch über den Vater war, wollte ich etwas über meine Mutter schreiben.

Das Buch schildert in einem einzigen langen Satz den Gang der hochschwangeren jungen Frau durch Rom...

Zu einem Konzert in der deutschen evangelischen Christuskirche in der Via Sicilia.

Wo Ihr Vater Pfarrer war.

Wo er der zweite war, der Hilfspfarrer. Aber er war auch Soldat, und zum Zeitpunkt der Geschichte war er an der Front in Nordafrika. Es werden in diesem Buch die Gedanken dieser jungen Frau, meiner Mutter, geschildert über die Stadt, über den Krieg, ihren Mann, ihre unklare Zukunft, über die ihr unverständlichen Katholiken, alles aus der Perspektive einer 21-jährigen, wenig gebildeten, jungen deutschen Frau aus der Provinz.

Wenige Wochen später wurden Sie in Rom geboren. Jetzt leben Sie wieder in hier Rom. Seit wann?

Seit zehn Jahren. Ich habe hier meine Frau kennengelernt, die hier ihre Arbeit hat. So scheint sich etwas gerundet zu haben, ich koste das aus.

Der Georg-Büchner-Preis

Tagung: Der Büchnerpreis wird am kommenden Samstag während der Herbsttagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vergeben. Sie beginnt am Donnerstag und feiert das sechzigjährige Bestehen der Auszeichnung.

Preisträger: Die Jury des Georg-Büchner-Preises hat in ihrer Begründung mit Recht die "politisch hellwachen Texte" des Autors Friedrich Christian Delius hervorgehoben. Die Laudatio auf Delius hält seine Kollegin Sibylle Lewitscharoff. Am Samstag werden zwei weitere Akademiepreise verliehen. Der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay geht an Günter de Bruyn, der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa an Arnold Esch.