Vor vier Jahren am 7. Januar hat Fritz Kuhn sein Amt angetreten. Die Halbzeitbilanz fällt durchwachsen aus: Vieles, was der erste grüne OB einer deutschen Landeshauptstadt auf den Weg gebracht hat, blieb bislang in Ansätzen stecken.

Stuttgart - So leicht bringt Fritz Kuhn nichts aus der Ruhe. Wenn man ihm allerdings unterstellt, dass die Grünen in Stadt und Land vielleicht deswegen so erfolgreich seien, weil sie gar keine grüne Politik machen, dann wird der Stuttgarter Oberbürgermeister fuchsig – so geschehen vor Kurzem in einem Radiointerview zum Thema Fahrverbote bei Feinstaubalarm. „Das ist eine Aussage, die ich nur zurückweisen kann“, beschied ein barscher Rathauschef die Journalistin, die sich darüber mokiert hatte, dass Kuhn sich beim Thema Fahrverbote für Autos mit Verbrennungsmotoren nicht festlegen wollte.

 

Am 7. Januar 2017 hat der Stuttgarter Oberbürgermeister Halbzeit. Vor vier Jahren ist er mit dem Wahlversprechen angetreten, den Feinstaub aus dem Verkehr zu ziehen. Tatsächlich hat er in Sachen Luftreinhaltung einiges auf den Weg gebracht – etwa die Einführung des Jobtickets für städtische Mitarbeiter. Wie erhofft zogen das Land, aber auch große und mittelständische Unternehmen nach. Die Einführung von Tempo 40 an Steigungen und der Ausbau des Radwegenetzes hat zum Rückgang der Feinstaubwerte beigetragen, doch eine Radlerstadt ist Stuttgart deswegen noch lange nicht. „Wir werden besser, sind aber noch nicht am Ziel“, macht sich der OB Mut – und zeigt mit dem Finger auf Berlin. Dass CSU-Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt mit seinem Veto gegen die blaue Plakette für schadstoffarme Diesel den Schwarzen Peter an die Kommunen weitergereicht hat, stinkt dem Grünen: „Der Bund lässt uns im Stich.“

Am Ende könnte nur der Kampf gegen den Feinstaub übrig bleiben

Der Feinstaubalarm, den der OB erstmals Anfang 2016 ausrief und der die Autofahrer zum freiwilligen Verzicht auf die eigene Karosse bewegen sollte, führte nicht zu einer nachhaltigen Verbesserung der Luftqualität. Wahrscheinlich werden nun Gerichte die Politik zu Fahrverboten zwingen. Die muss Kuhn dann umsetzen, und dafür wird er wohl Prügel einstecken. Ihm schwant: So wie die Amtszeit seines CDU-Amtsvorgängers Wolfgang Schuster am Ende vom Konflikt wegen Stuttgart 21 überlagert wurde, könnte sein politisches Wirken einmal auf das Thema Fahrverbote reduziert werden.

Anders als von manchen erhofft, von anderen befürchtet, konzentriert sich Kuhn ganz auf seine neue Aufgabe als Stadtoberhaupt. Nach der Wahl noch bundesweit als erster grüner OB einer deutschen Landeshauptstadt im Fokus des Medieninteresses, spielt er etwa auf Bundes- oder Landesparteitagen der Grünen mittlerweile neben dem Grünen-Star Winfried Kretschmann allenfalls eine Nebenrolle. In vielen Bereichen der Stadtpolitik profitierte er von den soliden Grundlagen, die seine christdemokratischen Amtsvorgänger Manfred Rommel und Wolfgang Schuster gelegt haben.

Viele fragen sich: Wo bleibt das grüne Projekt?

Der erste Grüne an der Rathausspitze will die Stadt ökologisch, wirtschaftlich und sozial zukunftsfähig machen. Anders als bei Schuster oder Rommel manifestieren sich Kuhns Leuchtturmprojekte nicht in Bauwerken. Bei Stuttgarts Leuchtturm, dem Fernsehturm, hat er schon kurz nach seinem Amtsantritt sogar die Lichter ausgeknipst – wegen Brandschutzrisiken. Seine Politik hat er unter das Motto Nachhaltigkeit gestellt. Seine Projekte sollen langfristig Wirkung entfalten – schnelle Resultate sind da kaum zu erwarten.

Dennoch fragen sich viele Menschen in der Stadt, vor allem diejenigen, die Kuhn gewählt haben, wo das grüne Projekt bleibt, das mit seiner Amtsübernahme doch so verheißungsvoll im Talkessel aufzuleuchten schien. Da mögen realitätsferne oder bestenfalls unpolitische Erwartungen eine Rolle spielen. Da mag ein fast naives Verständnis von Politik durchscheinen. Dennoch: Müsste ein grüner Oberbürgermeister nicht öfter ins Risiko gehen und Ziele formulieren, Visionen entwerfen, an denen sich der der Feinstaub-Debatten überdrüssige Großstadtbewohner laben kann? Müsste Kuhn nicht öfter die grüne Stadt der Zukunft mindestens in Debattenbeiträgen, in Reden oder Gesprächen zum Leben erwecken, seiner Regentschaft also jene Weihen der Utopie verleihen, die man gemeinhin mit grüner Politik verbindet? Er tut es nicht, und die Gründe mögen in seinem Verständnis von Politik zu finden sein. Kuhn ist Pragmatiker, kein Ideologe. Er wägt und prüft, sondiert Koalitionen und sucht Verbündete, bevor er bei einem Thema nach vorne prescht. Ob das den Menschen in Stuttgart auf Dauer genügt?

Beim Wohnungsbau ist noch viel zu tun

Auch in der Wohnungspolitik zieht Kuhns eher tastendes Vorgehen Kritik auf sich. Seine wohnungsbaupolitischen Zielvorgaben seien zu wenig ambitioniert, meinen unisono die SPD-Fraktion, der Mieterverein und die Immobilienwirtschaft – und fordern die Ausweisung neuer Bauflächen im Stadtgebiet. Prompt regt sich das grüne Gewissen beim OB: „Es wäre grundfalsch, auf den Acker zu gehen.“ Kuhn nimmt für sich in Anspruch, den unter Schuster darniederliegenden Sozialwohnungsbau wieder angekurbelt zu haben. Zugleich verweist er darauf, dass Stuttgart nicht allein den Mangel an preiswertem Wohnraum in der Region beheben könne. In der Region freilich finden viele, Kuhn solle erst einmal vor der eigenen Haustür kehren: Vom selbst gesteckten Ziel, 300 Sozialwohnungen pro Jahr zu bauen, ist der OB meilenweit entfernt.

Nachgesagt wird dem Verwaltungschef auch ein Desinteresse an der Arbeitsbelastung der städtischen Beschäftigten. In der Bildungspolitik lässt Kuhn Impulse vermissen und überlässt das Feld weitgehend der zuständigen Fachbürgermeisterin. Unter dem Strich habe der OB bisher zu wenig geliefert, meint etwa die SPD. „Mit dem Wissen von heute würde die SPD wohl keine Wahlempfehlung mehr für Kuhn abgeben“, so Fraktionschef Martin Körner.

Beim Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs – Voraussetzung für Kuhns Ziel, 20 Prozent weniger Autos im Talkessel zu haben – ist der OB auf Partner angewiesen. Zwar wollen Land, Region, Landkreise und Stadt die Zahl der Fahrgäste bis 2025 um mindestens 20 Prozent steigern, aber die dafür nötigen Millionenbeträge von Bund und Land fließen nur zögernd. Der städtischen Nahverkehrstochter SSB droht wegen erheblicher Kosten für neue Stadtbahnzüge ein milliardenschweres Defizit. Wie da ein Ausbau der Infrastruktur finanziell zu stemmen ist, darauf hat der SSB-Aufsichtsratschef Kuhn bisher keine Antwort gegeben.

Der Sport blickt neidvoll auf die Kultur

Schnelle und sichtbare Erfolge verspricht da eher die Kulturpolitik: Für den Neubau des John-Cranko-Ballettinternats hat der kulturbeflissene Kuhn Porsche als Sponsor an Land gezogen, die Sanierung des Kulturzentrums Wagenhallen vorangetrieben, die Villa Berg für eine kulturelle Nutzung in städtische Hand zurücküberführt. Den dicksten Brocken hat er mit der millionenteuren Sanierung der Staatsoper dabei noch vor sich. Mancher Sportfunktionär wünscht sich ein ähnliches Engagement. „Es heißt schließlich auch Kunstturnen“, merkt der Sportkreispräsident Fred-Jürgen Stradinger süffisant an. Andere halten dagegen, Kuhn habe die Kunstturn-WM 2019 nach Stuttgart geholt.

Und Stuttgart 21? Unter Kuhn hat das Thema an politischem Gewicht verloren. Wie sein Parteifreund Kretschmann hat der frühere Projektkritiker inzwischen mit dem Tiefbahnhof seinen Frieden gemacht. Noch bei seiner Antrittsrede hatte er der Bahn zum Entsetzen der Projektbefürworter attestiert, sie habe „den Karren an die Wand gefahren“. Mittlerweile entsetzt er die verbliebenen Projektgegner, wenn er die Leistungsfähigkeit des Tunnelbahnhofs rühmt. Neuerdings findet er sogar, Stuttgart 21 tue der Stadt gut. Nach der Volksabstimmung und dem Aufsichtsratsbeschluss der Bahn zum Weiterbau richtet der Pragmatiker den Blick auf die städtebaulichen Perspektiven. Bei finanziellen Nachforderungen der Bahn kehrt der Rathauschef dann aber doch den sparsamen Schwaben hervor: „Mir gäbet nix.“

Ein volksnaher „OB zum Anfassen“, wie ihn sich viele nach dem Rückzug des mitunter scheu wirkenden Wolfgang Schuster erhofft hatten, ist der stets konziliante Grüne nicht. Er gibt mehr den Obermeister als den Oberbürgermeister. Viele rühmen seine rhetorische Eloquenz, die er sich als Berliner Parlamentarier angeeignet hat. „Er hört sich gern reden, und ich höre ihm gerne zu“, so CDU-Fraktionschef Alexander Kotz. Dass Kuhn sich vorzugsweise als Problemlöser inszeniert, weiß man auch in seiner eigenen Partei. Er sei eben ein „ausgebuffter Politstratege“, messe der veröffentlichten Meinung eine große Bedeutung bei.

Mit den Linken hat Kuhn nichts am Hut

Auf Kritik reagiere er bisweilen jedoch fast so mimosenhaft wie weiland Schuster, heißt es im Rathaus. In der wöchentlichen Referentenrunde doziere er gern: „Ich sage Ihnen jetzt mal, wie ich das sehe.“ Beraten lasse er sich allenfalls von seinem Vize, dem CDU-Finanzbürgermeister Michael Föll, den er als kommunalpolitisches Schwergewicht respektiere. Andere loben seine analytischen Fähigkeiten, seine souveräne Moderation und seine Präsenz in den Gremien, etwa während der Etatberatungen: Die schwarz-grüne Mehrheit, die Ende 2015 den Doppelhaushalt 2016/2017 durchwinkte, hat er gestrickt.

Ist Kuhn also doch ein in grüner Wolle gefärbter Konservativer? Im Nachhinein wirkte die schwarz-grüne Haushaltskoalition im Rat zumindest wie ein Vorbote der Landtagswahl 2016, an deren Ende eine grün-schwarze Regierung stand. Seither jedenfalls ist im Rathaus die rechnerisch vorhandene ökosoziale Mehrheit politisch kaum noch sichtbar. Der Oberbürgermeister, daraus macht er keinen Hehl, hält die Linken für unzuverlässige Mehrheitsbeschaffer und steht dem CDU-Fraktionschef Alexander Kotz näher als dem SÖS-Linke-Sprecher Hannes Rockenbauch.

Rockenbauch wiederum findet, Kuhn betreibe oft Ankündigungspolitik und liefere allenfalls wohlfeile Strategiepapiere. Und auch sonst fragen sich viele: Wo bleibt neben Feinstaubalarm und ein paar Radwegen der große Wurf? Und: Ist es womöglich egal, ob ein Grüner oder ein Schwarzer auf dem Chefsessel im Rathaus sitzt?

Vieles, was Fritz Kuhn angepackt hat, blieb bisher unvollendet. Kein Wunder, dass im Rathaus kaum jemand daran zweifelt, dass der 61-Jährige in drei Jahren seine Kandidatur für eine weitere Amtszeit bekannt geben wird, zumal der Landtag die Altersbegrenzung für Oberbürgermeister aufgehoben hat. Denn eines ist dem Rathauschef auch in Bezug auf die eigene Person sehr wichtig: Er will in Stuttgart einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Doch dazu müsste er bald liefern.