Der Brexit steht erst noch bevor – sollte man meinen. Doch tatsächlich sind die britischen Inseln schon mehrfach von Europa getrennt worden.

London - Es wird ernst für Großbritannien. Auch wenn es erneut einen Aufschub gegeben hat und über den genauen Ablauf noch heftig gerungen wird, so scheint der Brexit doch immer sicherer zu werden. Welche Folgen die Trennung von Europa haben wird, so ist allenthalben zu hören, sei nicht ganz klar. Schließlich habe es so etwas bisher nicht gegeben. Doch das stimmt nicht ganz, Großbritannien hat bereits mehrere Trennungen hinter sich – und die verliefen katastrophal.

 

Beim ersten Brexit vor knapp 450 000 Jahren zerschnitten ungeheure Wassermassen wie eine Riesenfräse das Land zwischen den heutigen Städten Dover und Calais. Gespeist wurde der Wasserstrahl von einem großen Becken, das nordöstlich des heutigen Ärmelkanals lag. Die Lage war vertrackt: Es war damals deutlich kälter, im Norden hatten große Eismassen den Weg ins Polarmeer versperrt, in der Gegend des heutigen Kanals befand sich eine Landbrücke aus Kalkstein, die wie ein Damm wirkte. Themse, Rhein und Maas schütteten immer mehr Wasser in das Becken – bis es sich seinen eigenen Abfluss schuf.

Dessen Spuren sind zwar längst wieder mit Sediment verfüllt, doch ein Forscherteam um Sanjeev Gupta vom Imperial College London hat diese akribisch rekonstruiert. Wie sie 2017 im Fachblatt „Nature Communications“ berichteten, stürzte das Wasser in Kaskaden nach unten. Die Wasserfälle waren zig Meter hoch und hinterließen am Grund sogenannte Auskolkungen, die sich wiederum bis zu 100 Meter tief ins Gestein eingeschnitten haben.

Wasser schoss aus einem Gletschersee – und hobelte den Kalkstein weiter ab

Was den natürlichen Damm kollabieren ließ, darüber können die Forscher nur spekulieren. Möglicherweise waren große Eismassen in den Stausee abgerutscht und hatten einen Tsunami ausgelöst, vielleicht war der Landrücken auch durch Erdbeben brüchig geworden. Inwiefern Menschen betroffen waren, ist unklar. Während dieser Eiszeit war Großbritannien vermutlich nicht besiedelt, erst in der folgenden Warmzeit kehrten Menschen dorthin zurück, wie aus wenigen Funden hervorgeht.

Deutlich später, vermutlich vor etwa 160 000 Jahren, habe sich das Geschehen wiederholt, wenn auch nicht ganz so dramatisch, berichtet das Team um Gupta weiter. Abermals schoss Wasser aus einem Gletschersee und hobelte den Kalkstein weiter ab. „Der Durchbruch dieser Landbrücke zwischen Dover und Calais war zweifelsohne eines der wichtigsten Ereignisse in der britischen Geschichte und hat auch heute die Identität unseres Inselstaates geprägt“, kommentierte Gupta bei der Vorstellung der Studie etwas lakonisch. Als die Eiszeit endete und der Meeresspiegel anstieg, wodurch das Tal endgültig überschwemmt wurde, habe Großbritannien seine physische Verbindung zum Festland verloren. „Ohne diesen dramatischen Verstoß wäre Großbritannien immer noch ein Teil von Europa. Dies ist der Brexit 1.0, ein Brexit, für den niemand gestimmt hat.“

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Folgt man Guptas Zählung, dann erfolgte der Brexit 2.0 vor rund 8150 Jahren. Wieder war Britannien – aufgrund der Eiszeit und eines daher niedrigen Meeresspiegels – mit dem Kontinent verbunden. Die Landbrücke erstreckte sich vom heutigen England und Schottland hinüber nach Dänemark und wird als „Doggerland“ bezeichnet. Die Eismassen tauten, der Meeresspiegel hatte schon begonnen zu steigen. Doch Doggerland war noch begehbar.

Jäger und Sammler reisten damals hin und her, zeigen Funde

„Der Untergrund war oft morastig, und es gab ausgedehnte Laubmischwälder mit Rothirschen, Wildschweinen, Elchen, die von den Menschen mit Pfeil und Bogen gejagt wurden“, beschreibt Olaf Jöris vom Römisch-Germanischen Zentralmuseum in Mainz und Neuwied. Sesshaft seien die Jäger und Sammler noch nicht gewesen. „Aufgrund der Form und Bearbeitung der Steinspitzen, die sowohl in England wie auf dem Kontinent gefunden wurden, wissen wir, dass die Jäger und Sammler damals hin- und herreisten“, sagt der Archäologe. Doch das Leben der mittelsteinzeitlichen Pendler wurde beschwerlicher. Das Wasser stieg, das flache Doggerland wurde morastiger. Das Klima schlug um in eine Mini-Eiszeit, wie Bernhard Weninger von der Universität Köln erläutert, der ebenfalls zum Thema forscht: „Vor allem die Winter waren heftig, der Wind blies eisig, die Temperaturen lagen deutlich unter den heutigen Werten.“ Selbst die großen Flüsse waren vermutlich zugefroren, auch im Flachland. „Wären die Bewohner schon Bauern gewesen, hätte es sie sehr hart getroffen, denn es hätte sicher Ernteverluste gegeben. Als Jäger und Sammler konnten sie etwas besser damit umgehen.“

Bis zu jenem Tag vor etwa 8150 Jahren, als vor der norwegischen Küste am Unterwasserhang des Kontinents eine große Menge Sediment ins Rutschen kam und einen Tsunami auslöste. Grönland erreichte er ebenso wie Schottland und Dänemark. An manchen Orten waren die Wellen mehr als 20 Meter hoch und rasten weit ins Landesinnere. Doggerland, das mitten im Weg stand, muss regelrecht rasiert worden sein.

Die Steinklingen beidseits des Meeres unterscheiden sich deutlich

Dieses filmreife Szenario wird seit Jahren gern herangezogen, um das katastrophale Ende der Besiedlung zu beschreiben. Doch es mehren sich Hinweise, dass das so nicht stimmt. Jon Hill von der Universität York hat die Ausbreitung des sogenannten Storegga-Tsunami (benannt nach dem Herkunftsgebiet) modelliert und kommt zu dem Schluss: Doggerland wurde nicht so heftig getroffen, wie frühere Studien nahegelegt hatten. Die meisten Menschen hätten die Gegend vermutlich schon früher verlassen, weil der Meeresspiegel immer weiter stieg.

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Was genau geschah, versucht ein Team um Vincent Gaffney von der Universität Bradford aufzuklären. Sie vermessen Brown Bank, eine Untiefe vor England, mit geophysikalischen Methoden und entnehmen Sedimentkerne, um mehr über die Besiedlung und die Folgen des Storegga-Ereignisses zu erfahren.

Ob Doggerland wegen des Tsunamis vollständig verschwand oder noch ein paar Jahre über die Wellenspitzen hinausschaute – das Ergebnis ist das gleiche. Die Menschen blieben weg, es gab keine Verbindung mehr zwischen Großbritannien und dem Kontinent. „Die Steinklingen beidseits des Meeres unterscheiden sich seit dieser Zeit deutlich“, sagt Jöris. Es sei nicht ausgeschlossen, dass es manch einem gelang, mit einem einfachen Boot den Ärmelkanal zu überwinden – doch das seien Ausnahmen gewesen. Zu den geografischen Zwängen kommt außerdem der Trend, dass die Steinzeitmenschen sesshaft wurden, wie der Forscher sagt: „Wenn man sich auf kleinere Territorien zurückzieht, hat man weniger Kontakt zu seinen Nachbarn, es gibt keinen regen Austausch mehr.“