Die Pleite der Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 hat die Weltwirtschaft an den Rand des Abgrunds getrieben. Was hat sich getan, fünf Jahre danach? Wirtschaftlich überraschend viel, gesellschaftlich erstaunlich wenig, meint der StZ-Chefredakteur Joachim Dorfs in seinem Essay.

Chefredaktion: Joachim Dorfs (jd)

Stuttgart - Es waren die Ausläufer des Hurricanes Ike, die am 15. September 2008 durch die Straßen von Midtown Manhattan wehten. Ike hatte in den Tagen zuvor in der Karibik gewütet und allein auf Haiti 47 Todesopfer gefordert. Doch für die Männer und Frauen in Anzug und Kostüm, die an diesem Montagmorgen vor dem Büroturm Nummer 745 in der 7th Avenue auf die Straße traten, fühlte er sich an wie ein laues Lüftchen, verglichen mit den Turbulenzen, die sie gerade im Inneren des Gebäudes erlebt hatten. Sie hatten nicht nur ihren Job verloren, sondern waren die ersten Zeugen und Opfer einer Katastrophe, die die Welt bis heute im Griff hat. Es war der Untergang der Investmentbank Lehman Brothers, der vor fünf Jahren einen Sturm bis dahin unbekannten Ausmaßes über die Welt geschickt hatte. „Das ist das Ende der Welt, wie wir sie kennen“, sagte damals einer der Händler mit seinen Habseligkeiten unter dem Arm. Die Bilder der pappkartontragenden ehemaligen Lehman-Angestellten mit wehenden Krawatten sind die ersten Dokumente der Krise, die sich ins kollektive Gedächtnis brannten.

 

Der perfekte Sturm im Zeitraffer für das Kino im Kopf: an den Börsen brechen nach der Lehman-Pleite sofort die Kurse ein; Banken leihen einander kein Geld mehr, Dutzende Finanzinstitute werden verstaatlicht; Island und Irland mit ihren aufgeblähten Finanzsektoren stehen vor der Pleite; in Deutschland werden 500- und 1000-Euro-Scheine knapp, Bundeskanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Peer Steinbrück garantieren für die Sicherheit der Spareinlagen; die Wirtschaft bricht so stark ein wie noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg, Regierungen schnüren Rettungspakete von vielen 100 Milliarden Euro, um Staaten, Banken und die Konjunktur zu retten; Notenbanken fluten den Markt mit billigem Geld, Banken gründen „bad banks“ und bündeln darin ihre „toxischen“ Papiere; die Occupy-Bewegung gründet sich; in Europa werden Regierungen fortgespült. Das „Monster“ der Finanzmärkte (so der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler) ist los und reißt Massen in Arbeitslosigkeit und Armut.

Und heute? Was hat sich fünf Jahre danach verändert? Wirtschaftlich mehr, als die Öffentlichkeit wahrgenommen hat. Gesellschaftlich und politisch aber zumindest in Deutschland viel weniger, als man es nach einem solchen Orkan hätte erwarten können.

Die Politik im Dauerkrisenmodus

Der Reihe nach: die Politik im Dauerkrisenmodus – 40 Gipfel in 40 Monaten haben die Protagonisten absolviert – hat durchaus Erfolge gezeitigt. Die Regulierung der Banken ist schärfer geworden. So müssen die Finanzinstitute künftig mehr Eigenkapital vorhalten, damit sie Verluste besser selbst auffangen können. Da geht es um echte Geldbeträge, mit denen die Eigentümer einer Bank selbst haften müssen. Anders als in den vergangenen Jahren, als die mit den Risiken einhergehenden Verluste auf die Steuerzahler abgewälzt wurden, gibt es nun auch eine klare Haftungskaskade: zuerst zahlen die Eigentümer, dann kommen die Gläubiger an die Reihe, anschließend die Sparer mit großen Guthaben, dann ein von der Branche zu füllender Bankenfonds und erst ganz am Schluss der Staat. Auch die Transparenz wurde erhöht: Die Bankenaufsicht wird von den nationalen Notenbanken auf die Europäische Zentralbank (EZB) übertragen. So werden europaweit einheitliche Regeln gewährleistet.

Es gibt also durchaus positive Entwicklungen, und darin sind sich auch Experten einig, die sonst gerne unterschiedliche Auffassungen vertreten. „Anders als häufig öffentlich wahrgenommen, haben die Regierungen sowohl in den USA als auch in der Europäischen Union seitdem große Anstrengungen unternommen, die Finanzmärkte zu regulieren und haben eine Vielzahl ihrer Detailvorschläge umgesetzt“, schrieb vor einem Jahr Sebastian Dullien, Professor an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin, in einer Studie für die Hans-Böckler-Stiftung der Gewerkschaften. Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis kam vor einigen Wochen auch das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. Die Politik, lobt der IW-Chef Michael Hüther, habe die Zeit genutzt, um das Finanzsystem zu stabilisieren und die Wiederholung einer Lehman-Pleite weniger wahrscheinlich zu machen.

Ursache und Lösung: sehr viel billiges Geld

Und doch: trotz positiver Ansätze hat sich der Traum von einer überschaubaren und sicheren Finanzwelt nicht erfüllt – dazu waren die Ansätze nicht radikal genug, und dazu fehlt es vielen Maßnahmen an der Wirksamkeit. Dank freundlicher Unterstützung der Notenbanken verdienen die Banken vor allem in den USA heute bereits wieder Milliarden. Die Ursache der Krise war sehr viel billiges Geld. Die Lösung der Krise ist: sehr viel billiges Geld.

Auch die Verflechtungen der Banken sind nicht wesentlich geringer geworden. War die erste Reaktion nach dem Lehman-Crash, dass man eine Bank dieser Größe nicht mehr untergehen lassen dürfe, weil die Auswirkungen auf andere Banken, Staaten und Finanzmärkte unübersehbar sind, verständigten sich die Politiker in der Folge auf die grundsätzliche Haltung, dass keine Bank mehr „too big to fail“ sein darf. Die Banken wurden zur Transparenz verpflichtet, unter anderem dadurch, dass sie ihr Testament machen müssen. Sehr wörtlich bedeutet dies, dass eine Bank schon heute darlegen muss, welche Teile im Fall ihres Ablebens abgewickelt werden können und welche gerettet werden müssen.

Heute kaum besser geschützt als vor fünf Jahren

Doch trotz aller unbestreitbaren Erfolge wird zu viel Geld in kaum kontrollierten Schattenbanken gehandelt, ist der Derivatemarkt zu groß, bleiben die Verflechtungen zwischen den Finanzinstituten zu eng, die Anfälligkeit zu groß, falls doch ein Spieler pleitegehen sollte. Womöglich würden die Dominosteine langsamer fallen als 2008, doch das Ergebnis wäre wohl vergleichbar. „Wir wären gegen eine Kettenreaktion kaum besser geschützt als vor fünf Jahren“, mahnt der Bundesbank-Vorstand Andreas Dombret, der während der Lehman-Pleite noch für die Bank of America gearbeitet hat. Auch Hank Paulson, seinerzeit US-Finanzminister, fürchtet: „Keine Bank sollte so groß oder so komplex sein, dass sie nicht untergehen kann. Doch leider ist so gut wie jede Bank zu groß, um zügig abgewickelt zu werden.“

Interessanter noch als die technisch-wirtschaftlichen Konsequenzen sind die gesellschaftlichen Brüche in den vergangenen Jahren – oder vielmehr die Tatsache, dass sie zumindest in Deutschland weitgehend ausgeblieben sind. In Südeuropa sind die Regierungen auch durch den von Lehman ausgelösten Sturm und die folgende Wirtschaftskrise reihenweise fortgeweht worden – nicht so hierzulande. Das Vertrauen in die Marktwirtschaft, das unmittelbar nach dem Lehman-Zusammenbruch noch massiv erschüttert war, ist längst wiederhergestellt. Jedenfalls spielt das Thema weder in der öffentlichen Debatte noch im Bundestagswahlkampf eine Rolle. Auch die antikapitalistische Occupy-Bewegung hat weltweit – und besonders in Deutschland – nicht so viele Anhänger gewonnen, wie man das nach einem solchen Schock hätte erwarten können.

Der Banker als Bauernopfer

Dies ist umso erstaunlicher, als in den vergangenen Jahren zusätzlich zu den wirtschaftlich katastrophalen Auswirkungen viele empörende Details aus dem Innenleben der Banken ans Licht gekommen sind, die eine ungleich radikalere Gangart gegenüber den Finanzinstituten hätten fördern können. Dazu gehören die systematische und kriminelle Manipulation wesentlicher Zinssätze durch eine ganze Reihe von einstmals renommierten Finanzinstituten oder die veröffentlichten Telefonate von Bankern, die feixend Steuergelder verprassen und sich stolz intern auf die Schultern klopfen, wenn sie – wie etwa bei der Anglo Irish Bank – „Scheißdeutschen“ irgendeinen wertlosen Schrott verkauft haben.

„Über Jahre reißen die Banken die Gewinne internationalen Erfolgs an sich. Jetzt verteilen sie die Verluste auf jeden Steuerzahler in jeder Nation. Die Banken kommen nur noch ,nach Hause‘, wenn sie kein Geld mehr haben. Dann geben unsere Regierungen ihnen neues.“ So zitierte der FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher in seinem Beitrag „Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat“, den erzkonservativen britischen Kolumnisten Charles Moore. Das war vor zwei Jahren, löste noch einmal eine kurze kapitalismuskritische Debatte aus und verpuffte dann ohne weitere große Diskussion. Ja, die Ära der Deregulierung ist vorbei. Ja, die Banken und die Banker haben inzwischen ein so schlechtes Image, dass die Commerzbank fünfminütige Werbespots vor der „Tagesschau“ schalten muss, in denen sie die Botschaft transportiert: Wir haben verstanden. Wir machen nicht mehr so weiter. Versprochen. Selbst der Chef der Deutschen Bank Anshu Jain räumt ein, dass der Smalltalk auf einer Party stockt, wenn er zu erkennen gibt, dass er in einer Bank arbeitet.

Das war es dann aber auch. Von der gesellschaftlichen Ächtung des Berufsstands der Banker abgesehen sind weiter gehende gesellschaftliche Debatten und Konsequenzen ausgeblieben. Der Banker als Bauernopfer.

Die Deutschen wollen es gar nicht anders

Dafür lässt sich nur eine plausible Erklärung finden: Die allermeisten Deutschen wollen nicht, dass sich das System grundlegend ändert. Sie wissen, dass die Ausläufer jenes 15. September 2008 noch immer nicht vorüber sind, dass sie vor allem in Südeuropa immer noch toben. Doch hierzulande wähnt man sich, nachdem die Turbulenzen abgewettert worden sind, gut geschützt. Die Banken sollen sicherer werden, auf jeden Fall. Die Finanzmärkte sollen gezügelt werden, unbedingt. Aber auf die Rendite, die sie erzielen, auf die Rendite der Versicherungen, wollen nur wenige verzichten.

Das ist die Bigotterie: Wir wollen die Zinsen der Kaupthing-Bank, aber die Sicherheit der Sparkasse um die Ecke. Die Sparpläne von Millionen Deutschen, ihre Alterssicherung, sind auf dieser Rendite, auf diesen Fonds aufgebaut. Deswegen ist es unter anderem auch so schwierig, die seit Jahren immer wieder geforderte Finanztransaktionssteuer einzuführen. Die Banken, die sie zahlen sollen, reichen sie als Kosten weiter, vielfach an die Riester- und Rürup-Sparer.

In seinem Schauspiel „Das Himbeerreich“, das in Stuttgart uraufgeführt wurde, hat der Autor und Dokumentarfilmer Andres Veiel in eindrucksvoller Originaltext-Montage die Innenwelt der Banker ausgebreitet, der Leute, die an der „Honigpumpe“ saßen. Wie lässt Veiel doch einen seiner Protagonisten sagen: „Wer auf uns zeigt, der meint sich selbst.“