Vor fünf Jahren eröffnete die Lebenshilfe Stuttgart eine inklusive Kita im Synergiepark Vaihingen-Möhringen. Wie sieht der Alltag in einem Kindergarten aus, in dem Kinder mit und ohne Einschränkungen aufeinandertreffen?

Manteldesk: Sandra Hintermayr (shi)

Vaihingen - Mit viel Gekreische rennen die Jungs die Treppen rauf und runter, während die Mädchen es eher gemütlich und deutlich leiser angehen lassen. Kuscheln mit den Betreuerinnen steht für sie im Moment ganz oben auf der Wunschliste. Der normale Alltag in der Kindertagesstätte an der Ernsthaldenstraße unterscheidet sich auf den ersten Blick nicht von dem anderer Kindergärten: ein gemeinsamer Morgenkreis, Frühstück und Mittagessen, Aufenthalte in Spiel- und Bewegungsräumen, die die Kinder frei wählen können, und natürlich „Draußenzeit“, wie die Einrichtungsleiterin Antje Strohmeyer es nennt. Und für die ziehen sich die Kinder nun warm an – Mütze auf, Handschuhe an und ab in den frostigen Vormittag.

 

Inklusion beginnt nicht erst im Erwachsenenalter

Auf den zweiten Blick aber ist doch etwas anders in der Kita am Wallgraben: Sie ist inklusiv. Unter den 30 Kindern zwischen ein und sechs Jahren sind acht mit besonderem Förderbedarf. Manche haben körperliche oder geistige Behinderungen, andere sind in ihrer Entwicklung verzögert, weil sie beispielsweise viel zu früh auf die Welt kamen und so ihre Entwicklung im Mutterleib nicht abgeschlossen wurde. Am Wallgraben spielen und lernen sie gemeinsam mit Kindern ohne Behinderung. „Kinder machen da keinen Unterschied“, sagt Eva Schackmann, Pressesprecherin der Lebenshilfe Stuttgart, dem Träger der inklusiven Kita.

Und genau auf diese Weise funktioniere Inklusion. „Wer im Kindergarten oder in der Schule ganz selbstverständlich den Umgang mit Menschen mit einer Behinderung erfährt, hat auch als Erwachsener keine Berührungsängste“, sagt Schackmann. Wer diese Erfahrung nicht mache, sei oft unsicher oder habe sogar Vorbehalte gegen Menschen mit Behinderung. „Bei uns lernen die Kinder schon früh, dass jeder Mensch seine Stärken ebenso wie seine Schwächen hat.“ Inklusion beginne nicht erst im Erwachsenenalter, wenn es darum gehe, Arbeitsplätze zu finden. Es sei höchste Zeit, die getrennten Lebenswelten von Behinderten und Nicht-Behinderten zusammenzuführen.

Lebenshilfe will eine zweite inklusive Kita eröffnen

Mit der Kita am Wallgraben leistet die Lebenshilfe ihren Beitrag dazu. „Inklusion sollte nicht bedeuten, dass Menschen mit Behinderung ‚reingeholt’ werden müssen, sondern, dass sie ganz selbstverständlich Teil sind. Jeder Mensch hat das Recht, sich in seinem Lebensumfeld zu entwickeln und zu lernen“, ergänzt Strohmeyer. Aus diesem Grund möchte die Lebenshilfe gerne eine zweite inklusive Kita in Stuttgart eröffnen, allerdings fehlt es noch an geeigneten Räumen.

„Inklusion ist für mich ein Herzensthema. Ich habe hier ein tolles Team“, sagt die Kitaleiterin. In der Einrichtung an der Ernsthaldenstraße werden seit Januar 2014 Kinder mit Förderbedarf aus ganz Stuttgart von acht pädagogischen Fachkräften betreut und gemäß ihren Bedürfnissen gefördert. Von der Erzieherin über den Heilerziehungspfleger bis hin zur Ergotherapeutin reichen die beteiligten Berufe. Dazu sind derzeit zwei Bundesfreiwilligendienstleistende und eine Auszubildende in der Einrichtung. „Und wir haben immer wieder Studenten und Praktikanten“, sagt Strohmeyer.

Dazu kommt ein betriebsintegrierter Arbeitsplatz. Das heißt, dass eine der Mitarbeiterinnen selbst eine Behinderung hat. Patricia Pasquini ist Beschäftigte der Werkstatt der Lebenshilfe direkt neben der Kita und seit drei Jahren Teil des Teams im Kindergarten. „Sie hat hier ihren Platz gefunden“, sagt Eva Schackmann und Antje Strohmeyer ergänzt: „Sie bringt ihre Stärken gut ein, und wenn sie mal krank ist, fehlt sie uns richtig.“

Keine Zauberei, sondern gelebte Normalität

Im Kindergartenbereich ist die inklusive Kita am Wallgraben die einzige ihrer Art in Stuttgart. Förder- und Sonderschulen dagegen gibt es einige im Stadtgebiet. Mit diesen ist die Kindertagesstätte im regen Austausch, „um für die Kinder die Schule zu finden, die für sie am geeignetsten ist“, sagt Strohmeyer. Sie wünscht sich, dass vor allem Regelschulen die Inklusion weiter vorantreiben, dass die „Sonderstellung“, die Kinder mit einer Behinderung oft seit frühester Kindheit einnehmen, nach und nach abgebaut wird.

„Wir können nicht in einer Welt leben, in der von vornherein Unterschiede gemacht werden“, sagt die Kitaleiterin. „Für uns ist die gemeinsame Erziehung und Bildung von Kindern mit und ohne besonderen Förderbedarfen keine Zauberei, sondern gelebte Normalität. Jedes Kind will sich entwickeln, jedes Kind will lernen, egal, welche Voraussetzungen es mitbringt“, sagt Strohmeyer.