Raffinierte Schnitte in den Leib der Geschichte: Christine Wunnicke Foto: Monika Höfler
In „Wachs“ erzählt Christine Wunnicke vom Leben und Lieben einer Anatomin im Paris des 18. Jahrhunderts – und ist damit heiße Favoritin für den Deutschen Buchpreis.
„Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte“, fragt Friedrich Schiller am Vorabend der französischen Revolution in seiner Antrittsvorlesung? Ganz einfach, damit ein philosophischer Kopf die einzelnen Glieder zufälliger Ereignisse „zu einem vernunftmäßig zusammenhängenden Ganzen“ vereinigen kann. Und wie so ein vernünftiges Ganzes aussehen könnte, schien sich zu Schillers Zeit gerade im Nachbarland anzudeuten. Zwei Monate nach seinem Einstand als Historiker fand in Paris der Sturm auf die Bastille statt.
Damit wäre man zumindest schon einmal am Ort der Handlung von Christine Wunnickes Roman „Wachs“ angekommen. Man stößt darin auch auf philosophische Köpfe. Mancher davon hat allerdings gegen Ende des großen revolutionären Schlachtfestes der Vernunft den Kontakt zu seinem Rumpf verloren. Überhaupt kommen die historischen Studien der Münchner Autorin auf der ganzen Linie zu anderen Ergebnissen als die des von der französischen Nationalversammlung zum „citoyen français“ ernannten Schiller.
Das blutiges Geschäft einer berühmten Anatomin
So wie auch das Geschäft von Marie Biheron, der Heldin von „Wachs“, als das schiere Gegenteil jenes Vereinigens zu einem vernünftigen Ganzen zu begreifen ist. Man begegnet ihr zu Beginn als Dreizehnjähriger, die eine Ansammlung dumpfbackiger Musketiere mit der forschen, doch höflichen Frage überrascht: „Ich möchte bitte eine Leiche kaufen, so Sie eine für mich haben.“ Nachdem die resolute Person im Lauf der Zeit manche Leiche auseinandergenommen hat, wird aus ihr eine berühmte Anatomin. So weit, so wahr.
Eines Tages blickt sie in das unschöne Innere eines alten Mannes, ein Chaos aus Krankheit und Verwachsungen, angesichts dessen die Autodidaktin auf makabrem Terrain zum Schluss kommt: „Ich kann das besser“. Fortan überführt sie ihr blutiges Geschäft in kleine zerlegbare menschliche Wachsmodelle, eine Art anatomischer Barbie-Puppen, die auch am Hof in Versailles Anklang finden.
Christine Wunnicke öffnet den Korpus der Geschichte
Ähnlich wie Marie Biheron schneidet die Autorin in den Korpus der Geschichte. Was sie darin findet, ist nichts Vernünftiges, Ganzes, sondern seltsame Einzelheiten wundersame Formationen und erstaunliche Zusammenhänge, die sie in historischen Mikroromanen in eine unmittelbar einleuchtende Ordnung bringt. Sie handeln von Begegnungen deutscher Kartographen mit indischen Astronomen, von der spiritistischen Erscheinung jahrhundertealter Piratentöchter und ihrer wissenschaftlichen Entzauberung. Oder eben wie jetzt in „Wachs“ von der Liebe einer Anatomin zu einer gut zwanzig Jahre älteren Blumenmalerin.
Sie heißt Madeleine Basseporte, Marie nimmt bei ihr Zeichenunterricht. Dass beide Frauen später zusammengelebt haben, ist historisch verbürgt. Dass und wie sie zusammen geliebt haben, kann fortan als literarisch gesichert gelten: Nach einem gemeinsamen Besuch in Notre Dame zeigt Marie der Älteren ihre Wirkungsstätte. Und irgendwann schloss Madeleine die Augen „und sah das Fastentuch fallen, und es fiel und fiel.“
Solcher Dezenz in der Schilderung der erotischen Ekstasen des Paars, steht die erfindungsreiche Drastik entgegen, in der Wunnicke soziale Verhältnisse beschreibt, die schließlich ans kopflose Ende der Aufklärung führen. Und auch hier zeigt sich, was man mit einer raffinierten Schnitttechnik erreichen kann.
Terror der Vernunft
Die einzelnen Szenen folgen keiner Chronologie. Sequenzen, in denen die Greisin Marie, von ihrem Enkel, einem gutmütigen Stricher und Sansculotte, durch das vom Terror der Vernunft umgepflügte Paris geführt wird, wechseln mit solchen, die schlaglichtartig frühere Lebensabschnitte der beiden Frauen erhellen.
In einer begegnet man einem angeschmutzten Gesellen mit fettigem, schon schütterem Haar, von ungebändigtem Wissensdrang, er wohnt ein Stockwerk über Marie, und interessiert sich einfach für alles, vom Spitzenklöppeln, über Anatomie bis zu allem anderen, das Ganze in alphabetischer Reihenfolge. Es ist der Philosoph Denis Diderot, wer weiß, ob Marie nicht an der von ihm herausgegebenen Enzyklopädie mitgeschrieben hat. Wenn, dann wohl nicht unter ihrem Namen. Die Aufklärung war männlich.
Madeleine wiederum schreibt Briefe an den schwedischen Naturforscher Carl von Linné, in denen sie beklagt, nie Lehrer gehabt zu haben: „Frauen, vermute ich, werden deshalb in allem so gut, weil man es ihnen so schwer macht.“ Protofeministische Einsichten wie diese sind die Rache der historischen Romanschreiberin an einem Gang der Geschichte, in dem die Stellung der Frau auch durch die Revolution nicht zum Besseren gewendet wurde.
Dem enzyklopädischen Projekt, dem universalgeschichtlichen Optimismus setzt Christine Wunnicke die Wunderkammern der von einer ungebändigten Vorstellungskraft belebten Romane entgegen. Über die Wachsarbeiten ihrer Lebensgefährtin schreibt Madeleine Basseport einmal: „Sie nimmt das Kranke fort, das Faule, das Gestorbene, dann gibt sie ihre Liebe hinzu und macht alles heil. Sie besiegt den Tod en passant und erschafft von allem das Prinzip.“ Darin unterscheidet sich die Anatomin dann doch von der Autorin: Zu heilen obliegt ihr nicht, aber sie kann, was sich dem Prinzip nicht fügt, in beglückende Geschichten verwandeln, die für das entschädigen, an was der Weltenlauf krankt.
Autorin Christine Wunnicke, geboren 1966 in München, studierte Linguistik, Altgermanistik und Psychologie in Berlin und Glasgow und lebt heute in München und Berlin
Werk Im Zentrum ihrer oft historisch orientierten Werke stehen eigenwillige, vielfach exzentrische Figuren. Mit der „Der Fuchs und Dr. Shimamura“ (2015) und „Katie“ (2017), war sie schon zweimal für den Deutschen Buchpreis nominiert. „Die Dame mit der bemalten Hand“ (2020) wurde mit dem Wilhelm Raabe-Literaturpreis ausgezeichnet. 2025 erhielt sie den Jean-Paul-Preis für ihr literarisches Gesamtwerk.