Die japanische Regierung greift dem Betreiber der Atomruine Fukushima unter die Arme. Mit umgerechnet 360 Millionen Euro will man das kontaminierte Kühlwasser und eindringende Grundwasser in den Griff bekommen. Der Atomkraft bleibt Japan aber treu.

Tokio - Je mehr Kontrollen, desto mehr Lecks: Seit der Betreiber Tokyo Electric Power (Tepco) nach ersten Meldungen von auslaufendem Wasser die Kontrollen intensivierte, kommen fast täglich neue Probleme ans Licht. Sie stellen zum wiederholten Mal die Kompetenz von Japans größtem Stromkonzern in Frage, die Krise am havarierten Atomkraftwerk Fukushima Daiichi allein zu bewältigen. Shunichi Tanaka, der Leiter der japanischen Regulierungsbehörde, kritisiert, dass Tepco wiederholt Empfehlungen der Behörde missachtet habe. Auf die Frage einer Journalistin, ob es Tepco an einem Gefühl für Krise mangele, sagte er: „Ich kann das nicht kommentieren, ich stelle mir selbst eine ähnliche Frage.“

 

Jetzt will die Regierung Steuergelder in Höhe von umgerechnet 360 Millionen Euro einsetzen, um eine unterirdische Eismauer zu errichten, die den Zustrom von Grundwasser verhindern soll, sowie um eine neue Wasseraufbereitungsanlage zu bauen, die mehr radioaktive Stoffe aus dem Wasser zieht. Die Zeit drängt. Denn auf dem Gelände der Anlage geht der Platz für Tanks aus.

In den vergangenen Wochen hatte eine Alarmmeldung die nächste gejagt. Erst musste Tepco eingestehen, dass radioaktives Grundwasser fast von Anfang an in den Pazifik geflossen war. Dann wurde bekannt, dass hochverstrahltes Kühlwasser aus undichten Tanks ins Erdreich gesickert ist. Am Wochenende waren schließlich in der Nähe der Tanks Hotspots mit hoher Radioaktivität entdeckt worden, von denen erst nicht klar war, ob sie bisher bei den Kontrollen übersehen worden oder neu aufgetreten waren. Als Ursache vermutet der Betreiber nun zerfallendes Kunstharz, das in den genieteten Tanks als Dichtungsmaterial dient. An einem Tank war eine Strahlenbelastung von bis zu 1800 Millisievert pro Stunde festgestellt worden. Shunichi Tanaka relativierte die scheinbar hohe Zahl: Um Betastrahlung abzuschirmen, genüge wenige Millimeter dickes Material, erklärte er, zum Beispiel Aluminiumblech.

Eine Eismauer soll die Reaktorgebäude abschotten

Jetzt soll es die Eismauer richten. Die japanische Zeitung „Asahi“ berichtet, dass der Bau einer solchen Mauer bisher noch nie in dieser Größenordnung – geplant sind 1,4 Kilometer rund um die havarierten Reaktorblöcke 1 bis 4 – und über einen längeren Zeitraum versucht worden sei. Doch die Stilllegung der Anlage wird rund 40 Jahre dauern, Verzögerungen sind nicht ausgeschlossen. Zudem beginnt im November eine der kritischsten Phasen, wenn die verbrauchten Brennstäbe aus dem Abklingbecken in Reaktor 4 entnommen werden. Dazu wird normalerweise ein Kran verwendet, der jedoch seit dem Unglück nicht mehr einsatzbereit ist. Experten warnen davor, dass ein Unfall bei der Entnahme der Brennstäbe noch weitaus schlimmere Folgen haben könnte als das Unglück am 11. März 2011.

Ein Teil der Finanzspritze an den Betreiber Tepco wird dafür verwendet, das Wasserrecyclingsystem zu verbessern. Es soll in der Lage sein, 62 radioaktive Substanzen zu entfernten. Davon ausgenommen ist jedoch Tritium, ein radioaktiver Stoff, der bereits seit Monaten hinweg zusammen mit Grundwasser in den Pazifik entweicht. Eine Expertengruppe empfahl nun, das Tritium so stark zu verdünnen, dass die Zusammensetzung der der natürlichen Strahlung entspreche und unter den gesetzlichen Grenzwerten sei – und damit ins Meer gekippt werden könne.

Shunichi Tanaka versuchte am Montag der Regierung bei der Rettung der Atomindustrie den Rücken zu stärken. Er betonte, dass sich die Behörde nicht – wie sonst – darauf beschränke, die Aktivitäten des Betreibers zu verfolgen, sondern nun einen Arbeitsstab sowie ein Komitee zur Überwachung der Meeresfauna rund um das Atomkraftwerk zusammengestellt habe. Tanaka wiederholte auch seinen umstrittenen Kommentar, dass womöglich kontaminiertes Wasser unter den gesetzlichen Grenzwerten in den Pazifik entlassen werden müsse. Ihm sei bewusst, dass dies „in gewissen Kreisen“ – mit anderen Worten: bei den Fischern in der Umgebung – auf Widerstand stoßen werde. Doch die Regierung und seine Behörde müssten Maßnahmen einleiten, um einerseits die Verbreitung von verstrahltem Wasser zu verhindern und um andererseits den „Rufschäden“ zu begegnen, denen sich die Fischer in Nordjapan ausgesetzt sehen. Sie erhalten für nicht verkauften Fisch keine Entschädigung.

Demnächst ist Japan wieder atomstromfrei

Für Japans Atomindustrie sind die Meldungen von Lecks und Hotspots Stiche in eine ohnehin schon empfindliche Seite. Allerdings muss sie nicht um ihre Zukunft bangen, da sie durch die Regierung weiterhin unterstützt – und nun auch mit Steuermitteln gefördert wird.

Hilfe wird die Atomindustrie brauchen, wenn es daran geht, einige der derzeit 49 von 50 ruhenden Reaktoren wieder ans Netz zu bringen. Denn am 15. September geht der letzte noch laufende Reaktor im Atomkraftwerk Ohi vom Netz. Dann ist Japan atomstromfrei – nicht zum ersten Mal. Trotz der Warnungen davor blieben Stromausfälle bisher aus, weil die Stromkonzerne fossile Brennstoffe aus dem Ausland importierten und inzwischen so stark in erneuerbare Energien investierten, dass bereits zwei Atomkraftwerke ersetzt werden können.