Die Beziehung zwischen Menschen und Neandertalern war offenbar komplexer als bisher vermutet. Die Analyse eines Oberschenkelknochens von der Schwäbischen Alb liefert überraschende Befunde - und löst ein altes Rätsel.

Tübingen - Ein uralter Oberschenkelknochen aus der Hohlenstein-Stadel-Höhle auf der Schwäbischen Alb wirft ein Schlaglicht auf die Verwandtschaftsverhältnisse der Neandertaler. Denn Cosimo Posth und Johannes Krause von der Universität Tübingen und dem Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena haben gemeinsam mit ihren Kollegen darin Erbgut gefunden, das auf einen afrikanischen Einfluss hindeutet.

 

Irgendwann vor 460 000 bis 219 000 Jahren dürften sich Urmenschen aus Afrika und Neandertaler aus Europa begegnet sein und gemeinsame Kinder hinterlassen haben, schließen die Forscher in der Zeitschrift „Nature Communications“ aus ihren Analysen.

Zu den Nachkommen dieser Kinder gehörte sehr viele Generationen später auch der Neandertaler, dessen Überreste vor ungefähr 124 000 Jahren in der schwäbischen Kalksteinhöhle ihre letzte Ruhe fanden. Ob es dabei allzu friedlich zuging, bezweifeln die Forscher allerdings: Denn auf beiden Seiten des Knochens gibt es Spuren, die von den nagenden Zähnen eines großen Raubtiers stammen dürften.

Auch wenn das bereits 1937 ausgegrabene Fossil bereits stark versteinert war, konnten die Forscher daraus Erbgut gewinnen. Diese DNA stammt aus den Mitochondrien genannten organischen Mini-Kraftwerken, die in jeder Körperzelle stecken und diese mit Energie versorgen. Diese Mitochondrien haben ihr eigenes, relativ kleines Erbgut, das ausschließlich von der Mutter an ihre Kinder vererbt wird.

Wissenschaftler standen lange vor einem Rätsel

Als Forscher in den vergangenen Jahren das Erbgut der vor 40 000 Jahren verschwundenen Neandertaler mit dem moderner Menschen verglichen, entdeckten sie einen verblüffenden Unterschied: Die Kern-DNA legt nahe, dass beide Gruppen irgendwann in der Zeit vor 765 000 bis 550 000 Jahren begannen, eigene Wege zu gehen. Das Erbgut der Neandertaler-Mitochondrien dagegen ähnelte dem moderner Menschen viel stärker und legte eine deutlich spätere Trennung vor rund 400 000 Jahren nahe. Die Wissenschaftler standen vor einem Rätsel über die Nähe der Verwandtschaft beider Gruppen. Eine Lösung legt jetzt das Erbgut aus dem schwäbischen Neandertaler-Knochen nahe.

Zum einen konnten die Forscher aus dieser DNA das bisher nicht bekannte Alter des Fossils mit rund 124 000 Jahren bestimmen. „Das passt recht gut zu einer Isotopen-Analyse des Neandertaler- und zweier dort gefundenen Rothirsch-Knochen, die auf ein Leben in einer mit viel Wald bedeckten Gegend schließen ließen“, erklärt Johannes Krause.

Funde im Süden Sibiriens

Obendrein stammt das Mitochondrien-Erbgut aus der Hohlenstein-Stadel-Höhle zwar eindeutig von einem Neandertaler, aber aus einer völlig anderen Linie als alle bisher untersuchten Neandertaler. Seit mindestens 219 000 Jahren waren diese Gruppen eigene Wege gegangen – und ermöglichen so eine Erklärung der jüngeren Menschheitsentwicklung: Nachdem sich vor 765 000 bis 550 000 Jahren die Wege der modernen Menschen und der Neandertaler getrennt hatten, erlebten Letztere eine weitere Aufspaltung. Vor 473 000 bis 381 000 Jahren entwickelte sich eine Schwestergruppe, deren Erbgut aus einem Fingerknochen Johannes Krause und seine Kollegen erstmals 2010 beschrieben. Nachgewiesen sind diese Menschen bisher nur in der Denisova-Höhle des Altai-Gebirges weit im Süden Sibiriens, wo sie noch vor einigen Zehntausend Jahren lebten.

Das Mitrochondrien-Erbgut beider Gruppen ähnelte sich anfangs durchaus. Irgendwann vor 468 000 bis 219 000 Jahren müssen dann Vorfahren des modernen Menschen Europa erreicht haben. Aus ihren Begegnungen mit den dort lebenden Neandertalern gab es offenbar einige Kinder, die ihr Erbgut an ihre Nachkommen weitergaben. Weil es sehr viele Neandertaler aus der alten Linie und nur wenige dieser Mischlinge gab, verschwanden deren Spuren im Laufe der Jahrtausende im Erbgut der Zellkerne wieder. Aber das nur von den Müttern vererbte Mitochondrien-Erbgut, das aus Afrika gekommen war, konnte sich mit der Zeit durchsetzen.