Er sollte eigentlich ausgewechselt sein. Und dann trifft der bis dahin im deutschen EM-Auftaktspiel unauffällige Gomez zum 1:0-Sieg gegen Portugal. Eine verrückte Geschichte.

Lwiw - Mario Gomez sitzt im falschen Flieger, dafür immerhin ganz vorne, in Reihe eins am Fenster, neben seiner Freundin Silvia. Den Abflug der Kollegen hat er verpasst, weil er nach dem Schlusspfiff noch zur Dopingkontrolle musste. Fast drei Uhr in der Früh ist es daher schon, als Gomez wieder im Mannschaftsquartier in Danzig eintrifft. Er isst noch eine warme Suppe, dann geht er als Letzter ins Bett. Das ist nicht weiter schlimm, denn in den Schlaf, so darf man vermuten, findet der Nationalspieler ohnehin nicht.

 

Mario Gomez hat beim 1:0-Sieg am Samstagabend gegen Portugal das entscheidende Tor erzielt. Der DFB-Auswahl bescherte er damit im ukrainischen Lwiw einen gelungenen EM-Auftakt. Und sich selbst befreite er von einer zentnerschweren Last. Stark untertrieben wäre es zu sagen, dass es ein wichtiges Tor war. Es war das Tor, auf das der 26-Jährige sehnlichst gewartet hat. Es war: die Erlösung.

Sein drittes Turnier spielt Gomez in Polen und der Ukraine, er hat zuvor noch nie getroffen. Bei der WM vor zwei Jahren, als das deutsche Team in Südafrika wie im Rausch bis ins Halbfinale stürmte, war er ein Nebendarsteller, es reichte nur zu vier Kurzeinsätzen. Und in die EM 2008 in Österreich und der Schweiz ging er zuvor als strahlender junger Emporkömmling – und reiste anschließend wie ein geprügelter Hund zurück nach Stuttgart.

Der Fehlschuss gegen Österreich lag über ihm

Jahrelang verfolgte ihn der kapitale Fehlschuss im Gruppenspiel gegen Österreich, als er aus drei Metern das Tor nicht traf. Ein traumatisches Erlebnis war es, das Gomez in der DFB-Auswahl die ganze Zeit über nachhing, auch wenn er es immer wieder als längst abgehakt erklärte. Dutzende von Toren erzielte der Stürmer in den vergangenen Jahren für den FC Bayern. Im Trikot der Nationalelf jedoch kam er nicht richtig heraus aus dem großen Schatten von Miroslav Klose. Trotz der großen Wertschätzung, die er beim Bundestrainer immer genossen hat, war der Mann mit dem Körper einer griechischen Statue sehr oft der Stürmer von der traurigen Gestalt.

Auch im Spiel gegen Portugal, in dem ihn Joachim Löw überraschend anstelle von Klose in die Startelf berufen hat, scheint alles dafür angerichtet, dass die Leiden weitergehen. Nach einer Minute setzt sich Gomez zwar mit einem Kopfball in Szene – anschließend aber ist nicht mehr viel zu sehen. Das Spiel läuft an ihm vorbei. Er steht vorne am Strafraum und scheint nicht so recht zu wissen, was er tun soll. Den Fernsehexperten Mehmet Scholl beschleicht „zwischendurch die Angst, dass er sich wund liegt und mal gewendet werden muss“. Vernichtender kann man Kritik kaum formulieren.

Kurz nach der Pause beginnen die deutschen Fans, nach Miroslav Klose zu rufen. Auch Gomez entgeht das nicht. Und er bemerkt auch, wie sich sein Konkurrent nach 70 Minuten die Trainingsjacke auszieht, sich am Spielfeldrand die Oberschenkel dehnt und auf die nächste Spielunterbrechung wartet. Eine Frage von Sekunden ist es, bis es wieder heißen würde: der Gomez bringt es einfach nicht, da kann er noch so viele Chancen bekommen. Womöglich wäre er für den Rest des Turniers auf der Ersatzbank gelandet.

Mit Hilfe vom vierten Schiedsrichter

Dann jedoch kommt ihm ein Mann zu Hilfe, mit dessen Unterstützung niemand rechnen konnte: Marcin Borski, der vierte Schiedsrichter. Als der Ball im Aus und Klose bereit ist, hantiert der Pole noch ungeschickt mit der Wechseltafel herum. Das Spiel geht weiter. „Wir wollten schon früher auswechseln – aber er hat so lange gebraucht, um das anzuzeigen“, sagt Löw hinterher. Gomez bekommt noch einen Spielzug, „Ich wusste, dass ich noch eine Chance erhalte.“ Von rechts fliegt ein Flanke von Sami Khedira in den Strafraum, sie wird abgefälscht und landet auf Gomez’ Kopf.

Dann liegt der Ball im Tor.

Der Stürmer dreht jubelnd ab, und wenn man genau hinschaut, sieht man Tränen in seinen Augen. „Gomez, du Gigant“, schreibt die „Bild“-Zeitung – und man will lieber nicht wissen, wie die Schlagzeile gelautet hätte, wäre Marcin Borski ein bisschen schneller gewesen.

Nicht mit hängenden Schultern, sondern mit erhobenem Kopf verlässt Gomez das Spielfeld, als er dann doch noch Platz für Klose macht. „Es war ein weiter Weg bis hierhin. Ich bin sehr glücklich, dass mir der Trainer das Vertrauen geschenkt hat. Ich wollte es zurückgeben“, sagt Gomez hinterher. „Eine Chance, ein Tor – das spricht für seine Qualität“, erklärt Löw über den Münchner, der nun davon ausgehen darf, auch im nächsten Spiel am Mittwoch gegen die Niederlande in der Startelf zu stehen. Und Miroslav Klose sagt: „Für mich gilt es jetzt, auf meine Chance zu warten.“