Auch im zweiten deutschen Spiel der Fußball-EM 2012 gegen die Niederlande wird die Mannschaft von Joachim Löw nicht im Hurrastil agieren. Der Bundestrainer ist vorsichtiger geworden.

Charkow – Von rechts außen passt Thomas Müller den Ball flach in den Strafraum. Mesut Özil spielt ihn direkt weiter auf Miroslav Klose. Der steht halbrechts ganz alleine vor dem herausstürzenden Torwart und legt den Ball trotzdem noch einmal in die Mitte zurück, wo ihn wiederum Özil ins leere Tor schiebt. Es ist ein formvollendeter Treffer, dem zwei ebenfalls wunderschön herausgespielte Tore vorausgegangen sind. Und es ist an jenem Novemberabend des Jahres 2011 in Hamburg die Krönung eines spektakulären Fußballspiels, bei dem der Gegner aus Holland nur staunend zuschauen kann.

 

Viele sagen, die Mannschaft des Bundestrainers Joachim Löw sei bei diesem 3:0-Testspielsieg gegen die Niederlande auf ihrem absoluten Höhepunkt gewesen. Der Erfolg gegen den Erzrivalen bildete damals den Abschluss eines triumphalen Fußballjahres, in dem die deutsche Elf Brasilien besiegt und sich mit einer makellosen Bilanz frühzeitig für die Europameisterschaft qualifiziert hatte. Der Titelgewinn in Polen und der Ukraine, so schien es damals , würde nicht viel mehr werden als eine reine Formsache.

Viel Glück im Spiel gegen Portugal

So klar liegen die Dinge heute längst nicht mehr. Die DFB-Auswahl hat seither gegen Frankreich und die Schweiz verloren; und sehr viel Glück war nötig, um im ersten EM-Spiel gegen Portugal mit 1:0 zu gewinnen. Niemand geht daher davon aus, dass es ein Offensivspektakel wie im vergangenen November wird, wenn Deutschland am Mittwochabend (20.45 Uhr/ZDF) in Charkow erneut auf die Niederlande trifft. Joachim Löw sagt: „Der Gegner wird sich diesmal ganz bestimmt nicht mehr so vorführen lassen.“ Der Teammanager Oliver Bierhoff sagt: „Es wäre doch verrückt zu glauben, dass dieses Spiel ähnlich läuft.“ Und das liegt nicht allein daran, dass den Holländern beim letzten Mal wichtige Spieler gefehlt haben.

Der Zauber des Vorjahres, er scheint der deutschen Mannschaft in den vergangenen Monaten abhandengekommen zu sein. Dafür gibt es Gründe. Je näher das Turnier gerückt ist, desto stärker spürten die Spieler die gewaltige Erwartungshaltung, die sie mit ihren famosen Leistungen in den vergangenen zwei Jahren selbst aufgebaut hatten. Bei der WM 2010 galten sie noch als Außenseiter und spielten unbekümmert auf. Diesmal lastet die Bürde des Favoriten auf ihren Schultern, was auch die Beine bisweilen schwerer werden lässt.

Es macht die Sache auch nicht leichter, dass die Vorbereitung sehr unglücklich verlief und wichtige Spieler (noch) nicht im Vollbesitz ihrer Kräfte sind. Und schließlich ist es etwas anderes, gegen einen großen Gegner ein unbedeutendes Testspiel zu bestreiten, als ihm in der Drucksituation eines Turniers gegenüber zu stehen.

Mannschaft defensiver eingestellt

Joachim Löw hat auf die Gegebenheiten bereits vor dem Auftaktspiel gegen Portugal reagiert und seine Mannschaft viel defensiver eingestellt, als es bisher der Fall gewesen war. In Test- oder Qualifikationsspielen sei es ihm lieber, „4:2, 6:2, vielleicht mal 5:2, 4:1 oder 3:2“ zu gewinnen, „weil wir nach vorne enorm viel Potenzial in die Waagschale werfen wollen“. Im Turnier jedoch sei es wichtig, „die Defensive stabil zu haben, denn wer einen groben Fehler macht, der wird bestraft“.

Es ist die Rückkehr zu einer eher pragmatischen Vorgehensweise. „Risiko minimieren, ja nicht fahrlässig werden – entscheidend ist in solchen Spielen zu siegen“, sagt Löw. Ergebnis- statt Zauberfußball, so lautet die Devise des Bundestrainers, der daher sehr erleichtert war, dass seine Abwehr gegen Portugal weitgehend fehlerfrei agierte. „Das ist die allersensibelste Stelle in einer Mannschaft“, sagt Löw.

Kein Zweifel besteht daher daran, dass die Viererkette heute unverändert bleibt. Auch vorne dürfte alles beim Alten bleiben, da es für Mario Gomez schwer vermittelbar wäre, nach seinem Siegtor gegen Portugal aus der Mannschaft zu fliegen. Allerdings hat Löw zuletzt noch einmal auffallend euphorisch von Miroslav Klose geschwärmt hat („Ein Weltklassestürmer“). Und wenn er sich an das Hollandspiel vom November zurückerinnert, dürfte es ihm noch schwerer fallen, den 34-Jährigen erneut auf die Ersatzbank zu setzen.

Einige Ausschnitte dieser Partie sind den deutschen Spielern dieser Tage noch einmal vorgeführt worden, womöglich auch das fabelhafte Tor von Mesut Özil. Oliver Bierhoff sagt: „Wir wollten damit noch einmal deutlich machen, welch großes Potenzial wir haben.“ Zuletzt konnte dies fast ein bisschen in Vergessenheit geraten.