Es ist angerichtet: An diesem Freitagabend wird die Fußball-EM in Frankreich mit dem Spiel des Gastgebers gegen Rumänien eröffnet (21 Uhr/ZDF). Halten die Franzosen dem Druck stand?

Sport: Carlos Ubina (cu)

Paris - Marcel Desailly erinnert sich noch gut, wie er damals durch die Straßen von Nantes oder Marseille ging. Wie mit jedem Schritt die Last auf seinen breiten Schultern zunahm. Wie er die Erwartungen von Freunden und Fremden spürte, letztlich sogar die Hoffnungen einer ganzen Nation. Schwer hatte der frühere Weltklassefußballer daran zu tragen.

 

1998 war das, als Frankreich die WM austrug. 18 Jahre später geht es um den EM-Titel, doch die Ausgangssituationen sind für Desailly vergleichbar: „Ich war es im Verein gewohnt, viele große Spiele zu bestreiten, aber der Druck auf ein Nationalteam als Gastgeber ist etwas ganz anderes“.

Das Gefühl, die Erwartungen – auch die eigenen – möglicherweise nicht zu erfüllen, kann lähmen. Wie 1998, als die Equipe Tricolore im Viertel- und Halbfinale neben großartigen Spielern auch viel Glück benötigte, um in das Finale zu kommen.

Dennoch bleibt vor dem Eröffnungsspiel an diesem Freitag im Stade de France gegen Rumänien (21 Uhr/ZDF) das WM-Turnier im eigenen Land ein Referenzpunkt. Weltmeister ist Frankreich damals geworden – und 1984 Europameister, als das Turnier ebenfalls rund um Paris ausgetragen wurde. So soll es diesmal wieder werden. Mit der Unterstützung einer ganzen Nation. „Ich habe eine solche Begeisterung im Vorfeld wie diesmal noch nie erlebt“, sagt Didier Deschamps, vor 18 Jahren Kapitän und seit 2012 Nationaltrainer.

Vermutlich ist diese Einschätzung des Basken aus Bayonne nicht ganz wahr, aber auch nicht wirklich falsch. Richtig ist jedenfalls, dass die Grande Nation Deschamps vertraut. Er hat es geschafft, das Team aus einem Tal des Frusts herauszuführen und ihm ein neues Profil zu geben. Mit Paul Pogba, Antoine Griezmann oder Blaise Matuidi, ohne Franck Ribéry, Karim Benzema oder Mathieu Valbuena. Den Bayern-Star will der Trainer nach dessen Rücktritt nicht mehr – auch wenn Ribéry zuletzt wieder Lust verspürt hat, das Trikot mit dem gallischen Hahn überzustreifen. „Es gibt aber keinen Grund, einen Platz im Kader für ihn zu opfern“, sagt Deschamps.

Deschamps beschwört den Teamgeist

Als taktisch zu eingeschränkt gilt der Dribbelkünstler. „Didier hat ihn rechts und in der Mitte probiert“, sagt Desailly, „aber Franck Ribéry funktioniert nur über links.“ Das ist Deschamps zu wenig, zumal er in der Überzeugung arbeitet, nicht die besten Einzelspieler aufstellen zu müssen, sondern die beste Mannschaft zusammenzustellen. Und deshalb gehören aus disziplinarischen Gründen weder Benzema noch Valbuena (Stichwort Sexvideo) dazu.

Rassismusvorwürfe hat das Deschamps im Fall des Stürmerstars Benzema eingebracht, auch sein Haus wurde beschmiert. Doch der Coach hat sich nicht aus der Ruhe bringen lassen und die Angelegenheit lediglich seinen Anwälten übergeben. Nichts soll die Vorbereitung mehr stören, nichts die Gruppe auseinanderdividieren – und die Anwesenheit des umstrittenen Duos aus Madrid und Lyon hätte womöglich die noch junge und frisch austarierte Mannschaft gespalten.

So beschwört Deschamps weiter den Teamgeist, und das Team die alten Geister, um die Mission zu erfüllen. Denn die Sehnsucht nach dem Titel ist groß. Vielleicht bleibt sie auch unerfüllt, aber in diesem Fall will der Trainer den Franzosen zumindest ein gutes Gefühl vermitteln. „Ein großes Turnier gibt den Menschen, vor allem in einem Land mit sozialen Sorgen wie Frankreich die Möglichkeit wenigstens für einen Moment zu entfliehen, das Spektakel anzuschauen und die Mannschaft zu unterstützen“, sagt Deschamps.

Eine Mannschaft, die ihre Stärken im Angriff hat. Eine Mannschaft, die aber auch immer wieder aus dem Gleichgewicht zwischen Offensive und Defensive gerät. Zumal gute Abwehrspieler wie Raphäel Varane (Real Madrid) und Jérémy Mathieu (FC Barcelona) bei der EM ebenso verletzt fehlen wie Lassana Diarra (Olympique Marseille), Kurt Zouma (FC Chelsea) und Aymeric Laporte (Athletic Bilbao).

„Das Problem dieser Mannschaft wird sein, wer sie auf dem Platz führt“, sagt Desailly, der die neue französische Spielergeneration gerne auch mit der deutschen Nationalelf vor einiger Zeit vergleicht. Hoch talentiert ist sie, zusammenwachsen muss sie – und mit dem Erwartungsdruck fertig werden. Deshalb schottet Deschamps sein Team in Clairefontaine seit einigen Tagen ab. Einer der letzten Besucher im EM-Quartier vor den Toren von Paris war François Hollande – und der Staatschef verabschiedete sich mit den Worten, die Spieler schon bald empfangen zu wollen, am 11. Juli in seinem Palast nach dem Titelgewinn.