Die ungarische Mannschaft ist eine der positiven Überraschungen dieser EM. Ein deutsches Trainer-Duo hat die Schatten der Vergangenheit vertrieben. Auch Cristiano Ronaldo und dessen Portugiesen können sie nicht schrecken.

Lyon - Am Sonntag gab Bernd Storck seinem Team kurzerhand frei. Es war der Tag nach dem 1:1 gegen Island, mit dem Ungarn das Tor zum Achtelfinale weit aufgestoßen hatte. Siegestrunken waren die Spieler des krassen EM-Außenseiters auf dem Rasen von Marseille herumgetollt, sie hüpften und herzten und balgten sich wie kleine Kinder, da machte auch Co-Trainer Andreas Möller mit seinen 44 Jahren keine Ausnahme. Nun also war Familientag im Mannschaftsquartier – unter strengen Regeln: „Vorher wird noch trainiert, und am nächsten Tag geht es auch wieder zur Sache“, sagte Storck, „wir sind keine Touristen hier. Urlaub können die Spieler nach der EM machen.“

 

Wann die Zeit danach beginnt, ist offen. Auf jeden Fall später, als alle Welt vermutet hatte. 44 Jahre liegt Ungarns letzte EM-Teilnahme zurück, 30 Jahre nach der WM in Mexiko nimmt das Land wieder an einem großen Turnier teil. In der Marktwerttabelle aller 24 EM-Teams liegt Ungarn hinter Albanien, Island und Nordirland auf dem letzten Platz. Was also sollte dieser Winzling schon groß reißen? Eine ganze Menge, wie sich gezeigt hat. Nur eine hohe Niederlage gegen Portugal an diesem Mittwoch (18 Uhr) in Lyon und einige ungünstige Ergebnisse der Konkurrenz können das Weiterkommen noch verhindern. „Wenn Sie mir das vorher gesagt hätten, hätte ich es nicht geglaubt“, sagt Bernd Storck, der von Dezember 1993 bis April 1995 unter Jürgen Röber Co-Trainer beim VfB Stuttgart war. Und Gabor Kiraly, der Torwart-Oldie mit der stets zu großen Schlabberhose, meint ungläubig: „Wir fahren nicht mit leeren Händen nach Hause. Wir haben vier Punkte, das ist traumhaft.“

Das Team mit Storck, Möller und Torwarttrainer Andreas Gehrke hat eine Revolution angezettelt. Mit deutscher Wertarbeit, geprägt durch Leistungsdiagnostik, Trainingssteuerung, Disziplin und Taktikschulung, haben sie die Nachfahren des Vize-Weltmeisters von 1954 wachgeküsst. „Unsere deutschen Trainer haben die Mentalität verändert“, sagt Stürmer Adam Szalai. Als Sportdirektor des Verbandes (seit März 2015) war Storck rasch bewusst: „Die Schatten der Vergangenheit waren sehr lang. Das Denken ist in Ungarn sehr rückwärtsgewandt, wenn es um Fußball geht.“ Die großen Zeiten der Ära Ferenc Puskas überlagerten jeden Fortschritt. Der Verband sehnte sich nach jenen Erfolgen zurück, ohne die notwendige Erneuerung einzuleiten. Erst mit Storck kam die Wende.

Wo früher kurzatmiger Aktionismus herrschte, zeigt der Nachfolger von Pal Dardai (seit Juli 2015) Geduld und Nachsicht. Talente, die früher Fehler gemacht hatten, tauchten teilweise nie wieder in der Nationalelf auf. Storck stellt sich hinter seine Spieler, stärkt sie – selbst Gabor Kiraly. Der Routinier hatte gegen Island den Strafstoß zum 0:1 ermöglicht, nachdem ihm der Ball durch die Hände geflutscht war. „Ich habe ihm gesagt, er muss rauskommen. Und wenn er rauskommt, können Fehler passieren. Wenn, dann bin ich schuld“, sagt Storck.

Die Unerfahrenheit, die auf fast alle anderen Spieler zutrifft, macht die Mannschaft durch Kampf, Laufbereitschaft und Teamgeist wett. Nur Adam Szalai (Hannover 96), Gabor Kiraly und Balazs Dzudzsak (Bursaspor) stehen für ungarische Verhältnisse im Rampenlicht. Szalai ist mit Hannover abgestiegen, Zoltan Stieber mit dem 1. FC Nürnberg nicht aufgestiegen, und Laszlo Kleinheisler ist bei Werder Bremen häufig nur Reservist. Alle drei waren die Matchwinner beim 2:0-Auftaktsieg gegen Österreich, der den Grundstein legte für den bevorstehenden Einzug ins Achtelfinale. „Es ist ein Traum. Und wir wollen nicht aufwachen“, sagt Abwehrspieler Mihaly Korhut vor dem Duell gegen Portugal. Auch der Name Cristiano Ronaldo schreckt die Spieler nicht, die Fans haben neuerdings ohnehin andere Vorbilder. „Die Kinder daheim wollen sein wie Kiraly oder Szalai“, sagt Korhut. Das ist das größte Kompliment für die Generation 2016.