Das Team der deutschen Nationalmannschaft ist noch nicht im Turniermodus. Das zeigt das Spiel gegen die Ukraine. Die Löcher im Mittelfeld und in der Abwehr sind zu groß. Bleibt zu hoffen, dass die Vorrunde nur die Aufwärmphase zu sein scheint.

Lille - Im Tornetz lag nur Jérôme Boateng, nicht aber der Ball. Gerade noch rechtzeitig vor dem Überschreiten der Torlinie hatte ihn der Nationalverteidiger kurz vor der Pause wieder nach vorne befördert – und Joachim Löw damit die Vorlage geliefert, die Europameisterschaft in Frankreich schon nach dem ersten Spiel mit einem schlauen Spruch zu bereichern: „Es ist gut, wenn man einen Jérôme als Nachbarn in der Abwehr hat.“

 

Von Szenen wie diesen ist die Rede, als die deutsche Fußball-Nationalmannschaft am Sonntagabend in Lille mit einem 2:0 (1:0) gegen die Ukraine in die EM gestartet ist. Auch um die Probleme bei den Standardsituationen geht es, um die Paraden Manuel Neuers und die Kopfbälle Shkodran Mustafi, von denen einer zum 1:0 geführt hatte, ein anderer aber in der Schlussphase beinahe zum Ausgleich ins eigene Tor getropft wäre. Manches hat also noch nicht gepasst, doch es ist trotz aller Unzulänglichkeiten wieder einmal gut gegangen. Auch das fünfte große Turnier unter Löw hat die DFB-Auswahl mit einem Sieg eröffnet. Nichts anderes ist allseits von ihr erwartet worden.

Nicht brilliert

Nein, die Deutschen haben gegen die Ukraine nicht brilliert, sie haben nur ihre Pflichtaufgabe erfüllt, auch wenn man an dieser Stelle durchaus daran erinnern darf, dass die Engländer beispielsweise noch nie ein EM-Auftaktspiel gewonnen haben. Zur Routine gehört es im Land des Weltmeisters – entsprechend geschäftsmäßig ziehen die Spieler anschließend ihre Rollkoffer durch den Kabinengang, ehe sie sich auf den Rückreise an den Genfer See begeben. Von einem „typischen Auftaktspiel“ spricht Sami Khedira, während Toni Kroos bei seiner Kür zum Mann des Abends bemerkt, man sei jetzt „ein bisschen schlauer als vorher“.

Vor allem der Champions-League-Gewinner von Real Madrid ist es gewesen, der an den positiven Erkenntnissen beteiligt war: den technisch hochwertigen Ballstafetten, die es gelegentlich im Spiel nach vorne gab; den (wenigen) Torchancen, zu denen meist Kroos die Vorarbeit lieferte; dem dominanten Auftreten, das die Deutschen freilich erst nach der Pause demonstrierten, als den kantigen Ukrainern zunehmend die Kräfte schwanden. „Wir können insgesamt zufrieden sein“, sagt Löw.

Allerdings hat auch Kroos seinen Beitrag dazu geleistet, dass der Weltmeister gegen den Außenseiter vor der Pause viel öfter in Bedrängnis geriet, als man es vermuten durfte. Viel zu offen waren bei den Kontern die Räume im Mittelfeld, weil die Feingeister wie Özil, Draxler oder auch Kroos in solchen Spielen fast ausschließlich nach vorne denken – und nach einem Ballverlust gerne stehen bleiben anstatt den beschwerlichen Weg nach hinten anzutreten. „In der Defensive müssen wir uns besser organisieren“, sagt Khedira, der vor der Abwehr große Mühe damit hatte, die Löcher zu stopfen. In den Turniermodus muss auch er erst noch kommen.

Vorrunde als Aufwärmphase

Es gebe „sicher noch manches zu verbessern“, das sagt auch Joachim Löw – wirkt dabei aber nicht wie ein Trainer, der vor lauter Sorgen nachts kein Auge zubekommt. Eher als Aufwärmphase dürfte er die Vorrunde dieser aufgeblähten Europameisterschaft empfinden, in der auch Gruppendritte ins Achtelfinale einziehen. Und aus Erfahrung weiß er, dass sich seine Mannschaft auch auf die Defensivarbeit besinnt, wenn sie sich erst einmal gefunden, den Turnierrhythmus aufgenommen hat und größere Gegner gegenüberstehen.

Bis dahin wird sich der Bundestrainer auf keine Stammelf festlegen, sondern dürfte seine Mannschaft als Vorbereitung für den Ernstfall eher als eine Art Experimentierfeld begreifen. Joshua Kimmich könnte rechts hinten eine Chance erhalten, weil Benedikt Höwedes zwar eine verlässliche Kraft ist, seine fußballerischen Möglichkeiten aber limitiert sind. Mats Hummels drängt nach auskuriertem Muskelfaserriss auf seine Rückkehr ins Abwehrzentrum. Und ganz vorne wird Mario Gomez als Alternative zu Mario Götze nicht lange auf erste Einsatzzeiten warten müssen. Dass neben filigranen Technikern auch ein robuster Mittelstürmer nicht schaden kann – auch das wurde gegen die Ukraine deutlich, als die Flanken in den Strafraum meist keinen Abnehmer fanden.

Endspiel um den Gruppensieg

Gegen die Auswahl Polens geht es am Donnerstag weiter, auch sie hat zum Auftakt gewonnen, es ist also bereits eine Art Endspiel um den Gruppensieg. „Da werden wir besser verteidigen müssen“, sagt Jérôme Boateng, der verlässliche Nachbar aus dem Abwehrzentrum.