Mit seiner faszinierenden Art will das kleine Fußball-Eiland am Sonntag auch Frankreich das Fürchten lehren.

Sport: Carlos Ubina (cu)

Paris - Eyjólfur Sverrisson hat es kommen sehen. In den zahlreichen Interviews, die der frühere Spieler des VfB Stuttgart schon vor der EM gegeben hat, skizzierte er immer wieder die erstaunliche Entwicklung des isländischen Fußballs. Er erwähnte auch das Überraschungspotenzial, das in dieser Mannschaft mit samt seinen Fans stecken würde, und der Nachwuchscoach verwies schmunzelnd auf eine unglaubliche Kraft, die sich in Frankreich entfalten könnte – dank dieser wundersamen Wesen, die hinter den Isländern stünden: Elfen und Trolle.

 

Diese verborgene Völkchen leben der Sage nach auf der Atlantikinsel. Knapp die Hälfte der isländischen Bevölkerung glaubt auch an die Existenz der Naturgeister, und wenn alles passt wie in der Nacht von Nizza, dann offenbart sich die Magie einer Mannschaft. Sportlich, weil das kleine Fußball-Eiland sensationell das große Mutterland besiegte. Emotional, weil seit vergangenen Montag die Welt Kopf zu stehen scheint. Denn mit den Isländern ist die Hoffnung zurückgekehrt ist, dass der komplett kommerzialisierte Fußball seinen Zauber noch nicht ganz verloren hat.

Macht’s noch einmal!

Nun begleitet den Außenseiter die Frage, ob er die Herzen der Fans und Fachleute noch einmal höher schlagen lassen kann. Und man will diesen Burschen in den blauen Trikots zurufen: Macht’s noch einmal, Isländer! Am Sonntag (21 Uhr/ZDF). Gegen Frankreich. In Paris. Heimir Hallgrimsson begegnet der plötzlichen Aufgeregtheit um das Team herum jedoch mit dem ihm eigenen Realitätssinn. „Wir können gegen einen Gegner wie Frankreich das Spiel unseres Lebens abliefern – und trotzdem verlieren“, sagt der Trainer.

Doch wenn Darmstadt 98 in der Bundesliga bleibt und Leicester City englischer Meister wird, warum sollte dann Island nicht das Unmögliche möglich machen?

Eine Mischung aus Understatement und Übermut umgibt dieses heldenhafte Team, das auch schon an ein mögliches Halbfinale gegen Deutschland dachte. Doch keine Angst. Die Nordmänner wollen zunächst die Gastgeber das Fürchten lehren. Spielerisch mit den beschränkten Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen. Ohne jeden Starrummel, aber mit jeder Menge Teamgeist. Darauf lässt sich der isländische Fußball reduzieren: ein kompaktes 4-4-2-System, extreme Laufbereitschaft, gerade füreinander, und der Glaube, zusammen viel mehr erreichen zu können, als die Summe der Akteure hergibt.

Isländisches Tiki-Taka? Wohl kaum.

Das war der Unterschied zu den Engländern – hochtalentierte und hochpreisige Einzelkönner, die aber nicht als Einheit funktionierten. Das Spiel von Rooney und Co. zerfaserte und machte den Isländern das Verteidigen einfacher als sie zu hoffen gewagt hatten. Nun sollen die Elemente Feuer und Eis – leidenschaftlich auf dem Platz, gelassen außerhalb – auch die Franzosen in die Knie zwingen. Einem Ensemble, das es noch nicht geschafft hat, Offensive und Defensive zu einem Ganzen verschmelzen zu lassen. Die Isländer dagegen: „Wir haben uns von Spiel zu Spiel verbessert“, sagt Lars Lagerbäck, der schwedische Teil des Trainerduos, „nach der Balleroberung würde ich mir aber wünschen, dass wir cooler agieren.“

Isländisches Tiki-Taka wird es im Stade de France jedoch nicht geben. Selbst wenn gegen England Passdreiecke und Spielverlagerungen zu bewundern waren, die zu Torchancen führten. Getroffen haben die Isländer am Ende ihrer Passketten nicht. Verzagt sind sie dabei aber auch nicht. Aron Gunnarsson lachte sogar, als der Mittelfeldspieler nach einer solch spanisch anmutenden Kombination vorbeischoss.

Der Kapitän sieht so aus, als wäre er eben von einem Wikingerschiff gesprungen

Danach hat sich der Kapitän, der mit seinem wilden Bart aussieht, als sei er gerade von einem Wikingerschiff gesprungen, auch wieder dem zugewandt, was er kann: Rennen, attackieren und hammerweit einwerfen. Daraus entstehen Treffer für die Isländer. Wie beim Ausgleich im Achtelfinale durch Ragnar Sigurdsson. Einem Abwehrmann mit Klasse, wie auch Birkir Bjarnason, der mit wehender blonder Mähne die Seitenlinie rauf und runter rast.

Alles Spieler, die seit Kurzem im Fokus stehen und bei denen sich der VfB-Anhänger fragen könnte, warum die Stuttgarter bei ihrer ewigen Suche nach einem guten Innenverteidiger nie auf Sigurdsson gestoßen sind, der doch beim FK Krasnodar spielt, woher auch ein gewisser Toni Sunjic geholt wurde. Oder auf Bjarnason der für den FC Basel spielt. Oder eben auf den furchtlosen Gunnarsson vom Zweitligisten Cardiff City, der mit 15 Jahren sein erstes Profispiel bestritt – im Handball.

Sinnbildliche Jubelszenen

Vermutlich ist die Antwort aber simpel: Diese Spieler fallen in anderen Mannschaften weniger auf. Erst das Zusammenspiel in der isländischen Elf und das Zusammenstehen mit einer ganzen Nation macht sie besser. Alles versinnbildlicht in den Jubelszenen nach dem 2:1 gegen England, als die Isländer mit ihren Anhängern feierten – mit einer Haka-ähnlichen Aufführung, diesem kriegerischen Maori-Tanz der legendären neuseeländischen Rugbyspieler.

Ein Mythos ist das. Und mythisch könnte das gebrüllte „Huh!“ der Isländer zum immer schneller werdenden Klatschen ihrer Hände werden. Nach dem Frankreich-Spiel. Auch wenn das kein nordisches Ritual ist, sondern nur Fußballfolklore.