Um ein Haar hätte sich Didier Deschamps mit seiner Aufstellung verzockt, doch das allein war nicht ausschlaggebend. Am Ende gewann Frankreich mit größtem Aufwand gerade noch gegen den Außenseiter Albanien. Klein ärgert Groß – kein Einzelfall bei dieser EM. Warum ist das so?

Marseille - Das Spiel hatte schon genug Fallstricke für die Equipe Tricolore bereitgehalten, nun drohte Didier Deschamps endgültig zu scheitern. Bei der Pressekonferenz nach dem 2:0 gegen Albanien verhedderte sich Frankreichs Trainer derart mit seinem Kopfhörer und dem richtigen Kanal für die Simultanübersetzung aus dem Englischen, dass er eine gefühlte Ewigkeit lang technische Hilfe in Anspruch nehmen musste. Dass es bei der Equipe Tricolore auch auf dem Platz zuweilen – und zuletzt immer häufiger – etwas länger dauert, bis sie in die Gänge kommt, ist ja „nichts Neues“, wie Dimitri Payet bemerkte. In der 90. Minute konnte der Mittelfeldspieler die Führung durch Antoine Griezmann bejubeln, in der sechsten Minute der Nachspielzeit traf er gegen den wackeren EM-Debütanten dann selbst zum Endstand. „Die Könige der Nachspielzeit“, titelte die Sport-Tageszeitung „L’Équipe“ am Donnerstag. Deren Trainer ist so langsam mit den Nerven am Ende – trotz der vorzeitigen Qualifikation für das Achtelfinale. „Es wird langsam eine Marotte, dass wir immer am Ende zuschlagen, aber mir wäre etwas früher lieber“, sagte Deschamps mit einem gequälten Lächeln.

 

Siege auf den letzten Drücker haben für die Franzosen Methode. Vier ihrer sechs Erfolge in den sechs Länderspielen dieses Jahres haben sie erst ganz am Ende unter Dach und Fach gebracht. Vor der EM gelang ihnen beim 3:2 in den Niederlanden in der 88. Minute die Entscheidung, beim 3:2 gegen Kamerun dauerte es bis zur 90. Minute. Im ersten Gruppenspiel gegen Rumänien traf Dimitri Payet in der 88. Minute zum 2:1-Sieg.

„Verteidigen kann jeder"

Und nun Albanien, der krasseste aller Außenseiter, der im Angriff bis auf einen Schuss an den Pfosten so gut wie nichts zustandebrachte, was ansatzweise nach Torgefahr roch. Allerdings hatten die viel häufigeren Torschüsse auf der Gegenseite, wo Frankreich ebenfalls einmal den Pfosten traf, eine Streuweite, dass die Zuschauer auf Haupt- und Gegentribüne gut daran taten, in Deckung zu gehen.

Dass so lange nichts Zählbares herumkam, lag nur bedingt an der falschen Aufstellung, die Deschamps gewählt hatte. Griezmann und Paul Pogba, seine beiden Superstars, hatte er zunächst neben sich auf der Ersatzbank platziert. Anthony Martial, der eine Startelf-Neuling, entpuppte sich als Totalausfall. Der andere, Kingsley Coman, mühte sich vergebens. Erst nach der Pause, mit Pogba und später mit Griezmann, kam Frankreich in Schwung und zu 18 Torchancen – und Albanien zu Fall. „Das ist wieder typisch für uns. Das 0:1 gegen die Schweiz im ersten Spiel war schon sehr unglücklich. Und heute war es vielleicht noch eine Schippe schlimmer“, klagte Mergim Mavraj.

Statt Punkten blieben dem Neuling nur tröstende Worte für einen großen Abwehrkampf – immerhin. Wer einem Favoriten aber so lange die Stirn bietet, will mehr. Ein maßloses Anspruchsdenken ist das nicht, wie die erste Runde dieser EM zeigt. Enge Spiele und späte Tore sind fast die Regel. So siegten Wales (2:1 gegen die Slowakei) und Ungarn (2:0 gegen Österreich), so kamen die Isländer gegen Portugal zu einem Punkt, so hielten die Tschechen gegen Spanien lange ein 0:0, und wie die Albaner verkaufen sich auch die Nordiren teuer. „Verteidigen kann jeder", sagt der deutsche Verteidiger Shkodran Mustafi. Das klingt verächtlich, ist aber Teil der Wahrheit. Ein sicherer Torwart, ein Abwehrbollwerk davor und ein defensiv orientiertes Mittelfeld, das gelegentliche Konter setzt, können einem Favoriten das Leben schwer machen.

„Der Fußball wird immer taktischer“

Zudem haben die Trainer, viele mit Auslandserfahrung, längst auch den Nutzen der Videoanalyse entdeckt. Und die meisten ihrer Spieler stehen im Vergleich zu früher in den Topligen unter Vertrag, Schulung in Taktik und mehreren Spielsystemen inklusive. So haben sie mächtig aufgeholt. Für sie zählt nicht das schöne Spiel, sondern nur Schuften, Schweiß und Schmerzen. Gegen Frankreich sanken nacheinander fünf Albaner, von Krämpfen geplagt, zu Boden – na und? Der Zweck heiligt die Mittel und die körperliche Pein. „Der Fußball wird immer taktischer“, sagte Trainer Giovanni De Biasi, „der Unterschied sind die Hingabe und die Organisation.“ Wenn Cristiano Ronaldo über die wehrhaften Isländer lästert, sie hätten nur bescheidene Mittel und würden „so nichts reißen“, dann schätzt er die Motive der Kleinen falsch ein. Für sie geht es um Stolz und Ehre und ein mannhaftes Auftreten, vom EM-Titel träumt von ihnen keiner.

Umso mehr sind Favoriten wie Gastgeber Frankreich gefordert, dem der Erwartungsdruck wie ein schwerer Rucksack ins Kreuz drückt. „Wir haben Reife gezeigt, weil wir geduldig geblieben sind“, sagte Torwart Hugo Lloris. Verlass ist darauf nicht. Entweder scheitern sie früher oder später, oder sie wachsen in der Mühle der Mühen zu einem Team, das Großes erreichen kann. Nichts anderes ist ihr Auftrag im eigenen Land.