Nach dem EM-Aus von Antonio Rüdiger muss Bundestrainer Joachim Löw seine Abwehr neu zusammenbauen. Auf einen kann er dabei nicht verzichten.

Evian - Als langjähriger Bundestrainer hat es Joachim Löw zu einiger Perfektion darin gebracht, aus negativen Nachrichten positive Schlüsse zu ziehen. Das gilt auch jetzt, da sich Antonio Rüdiger das Kreuzband gerissen und der DFB-Präsident Reinhard Grindel auch noch detailgenau die hohen Ausgaben der deutschen EM-Kampagne vorgerechnet hat. Acht Millionen Euro im Falle eines Vorrunden-Aus, 25 Millionen bei einem Turniersieg. Heißt für Löw: „Finanziell wäre es besser, wenn wir möglichst früh ausscheiden.“

 

Den (Galgen-)Humor hat der Bundestrainer also nicht verloren, nachdem ihm in dem Abwehrspieler des AS Rom ein weiterer Nationalspieler noch vor dem EM-Auftakt abhandengekommen ist. Schon vor der Nominierung hatte es Ilkay Gündogan (Luxation der Kniescheibe) getroffen, dann musste im Trainingslager in Ascona Marco Reus (Schambeinentzündung) notgedrungen aus dem Aufgebot gestrichen werden. Antonio Rüdiger schließlich erwischte es gleich am Ankunftstag im EM-Basislager in Évian. Allesamt Spieler, „die in unseren Planungen eine wichtige Rolle gespielt haben“, wie Löw berichtet. Doch will er „auch diesmal nicht jammern“.

Spätestens seit der WM 2010, als sich Michael Ballack kurz vorher schwer verletzt hatte und die deutsche Mannschaft ohne ihren Kapitän noch begeisternder spielte als mit ihm, weiß der Bundestrainer, dass ein Ausfall nicht alle Pläne über den Haufen werden muss. Also hielt er sich am Dienstagabend nicht lange damit auf, das neue Verletzungspech zu beklagen, sondern leitete sofortige Abhilfe in die Wege, indem er dem Leverkusener Verteidiger Jonathan Tah den Marschbefehl erteilte.

Bei Tah stimmt „die Basis“

Zuvor hatte sich der Assistenztrainer Marcus Sorg versichern lassen, dass der 20-Jährige nicht direkt vom Büfett eines All-Inclusive-Strandhotels an den Genfer See kommt. Mit einem eigenen Trainer habe Tah stattdessen seit dem Bundesligaende an seiner Fitness gearbeitet, um nach einer in der Endphase der Saison erlittenen Lebensmittelvergiftung körperliche Defizite aufzuholen. „Die Basis stimmt“, sagt Löw und verweist darauf, dass der vom HSV ausgebildete Abwehrspieler seit seinem Debüt beim 2:3 gegen England Ende März „sowieso zum engen Kreis“ gehört habe. Anders als vor der WM 2014 wollte Löw den kurzfristig frei gewordenen Kaderplatz „ganz bewusst“ positionsgetreu besetzen. Für den Offensivmann Reus wurde damals der Verteidiger Shkodran Mustafi nachnominiert. Jetzt heißt es Abwehrspieler für Abwehrspieler, weil die Nationalmannschaft dort die ärgsten Sorgen plagen.

Noch größer werden nach der Verletzung von Mats Hummels und dem Ausfall von Rüdiger die Bedeutung und Verantwortung von Jérôme Boateng, dem Weltklasseverteidiger des FC Bayern. Zumindest in der Vorrunde wird er die Hauptlast in der Abwehr tragen müssen. Der 27-Jährige, sagt Löw, sei einer der Spieler, „die andere führen können“, einer von denen, „die nicht nur nach sich selbst, sondern auch nach anderen schauen“. Allerdings ist auch Boateng nicht ganz frei von Problemen.

Nach einem Muskelbündelriss samt dreimonatiger Pause kann der Münchner erst seit Ende April wieder spielen und muss im Training immer wieder kürzertreten. Den Angstschweiß dürfte es Löw auf die Stirn getrieben haben, als sich Boateng beim letzten Testspiel gegen Ungarn (2:0) auf dem Rasen krümmte. Ein Nerv war eingeklemmt, die Sache rasch behoben – sehr zur Erleichterung des Bundestrainers. Denn wenn Löw davon spricht, dass kein Spieler unersetzbar sei, dann ist Boateng derzeit die Ausnahme dieser alten Regel.

Löw vertraut auch Mustafi und Höwedes

Vor dem Auftaktspiel am Sonntag (21 Uhr) lautet jetzt die Frage, wer an der Seite des Abwehrchefs die Stürmer der Ukraine in die Schranken weist. Antonio Rüdiger war dafür vorgesehen, als Ersatz für den Weltmeister Hummels, der nach seinem Muskelfaserriss in der Wade vorerst nicht zur Verfügung steht. Nun muss der Ersatz vom Ersatz ran. Der Neuankömmling Tah ist dafür noch keine Option, er soll sich erst einmal im Mannschaftskreis integrieren.

Bleiben zwei: Shkodran Mustafi oder Benedikt Höwedes. „Ich hätte Vertrauen in beide“, sagt Löw. Allerdings wäre es für Mustafi, den Spanien-Legionär des FC Valencia, ein echter Kaltstart – als Einziger aus dem EM-Kader durfte er in den Tests gegen die Slowakei und Ungarn keine Minute mitspielen. Und der Schalker Höwedes, wie Boateng in der Rückrunde drei Monate lang verletzt, war eigentlich für die rechte Abwehrseite vorgesehen. „Ihn könnten wir nach innen ziehen“, sagt Löw.

Das wiederum würde die Chancen von Joshua Kimmich erhöhen, auf rechts zum Einsatz zu kommen. 21 Jahre ist er alt, hat ein Länderspiel und noch kein Turnier bestritten. Noch einer mehr also, um den sich Jérôme Boateng kümmern müsste.