Der 21-jährige Joshua Kimmich überzeugt bei seinem ersten Auftritt auf der EM-Bühne als Rechtsverteidiger. Beim VfB werden sie es noch einmal betrauern, das Eigengewächs einst nach Leipzig geschickt zu haben

Paris - Nach zwölf Minuten gibt es zum ersten Mal Szenenapplaus für Joshua Kimmich. Er hatte einen Ball abgelaufen und nach hinten gespielt, kleines Fußball-Einmaleins, eigentlich nichts Besonderes. Selbstverständlich war es trotzdem nicht, wie ruhig und wie abgeklärt der kleine Münchner nicht nur in dieser Szene agierte. Schließlich war es das erste Mal in seiner Karriere, dass er auf der Bühne eines großen Fußballturniers vorspielen durfte. Er tat es mehr als beeindruckend. „Jo hat es sehr gut gemacht“, lobte auch Bundestrainer Joachim Löw, „ich bin absolut zufrieden mit seinem ersten Spiel auf so einer Bühne.“

 

Auch im Netz wurde der frühere Stuttgarter gefeiert.

Von der ersten Minute spielte der in Rottweil geborene Kimmich beim 1:0-Sieg gegen Nordirland im Pariser Prinzenpark wie selbstverständlich mit – die 21 auf dem Rücken wie Philipp Lahm, der andere kleine Münchner, in dessen große Fußstapfen er nun trat. Völlig vermessen wäre es zu erwarten, Kimmich könnte bei diesem Turnier ein auch nur annähernd gleichwertiger Ersatz für den langjährigen Kapitän sein, der nach der WM aus der Nationalmannschaft zurückgetreten war. Die Hoffnung aber, dass die Dauerbaustelle hinten rechts geschlossen werden könnte – der 21-Jährige hat sie geweckt.

Dabei war es durchaus überraschend, dass Kimmich, der von 2007 bis 2013 in der Jugend des VfB spielte, seine Chance erhielt. Dass die Nationalmannschaft etwas anderes sei als der Vereinsalltag, dass der Druck bei einer EM gerade für junge Spieler gewaltig sei, davon hatte Löw im Vorfeld des letzten Gruppenspiels gesprochen. Und gerätselt, wann der richtige Zeitpunkt für einen Einsatz wohl gekommen sei. Im letzten Gruppenspiel war es also so weit – und siehe da: von Nervosität keine Spur, Im Gegenteil.

Alexander Zorniger war stinksauer über den Verkauf von Kimmich

Kimmich tat genau das, was man bei Benedikt Höwedes, dem Rechtsverteidiger in den ersten beiden Spielen, vermisst hatte: Er schaltete sich regelmäßig in den Angriff ein, bestach durch Ballsicherheit und eröffnete seinen Mitspielern mit teils brillanten Pässen und gut getimten Flanken gute Torgelegenheiten. Von allen Seiten wurde ihm anschließend auf die Schultern geklopft: „Der hat sich heute richtig was getraut, solche Spieler brauchen wir“, sagte etwa Mats Hummels. „Er hat das so cool gemacht für sein Alter“, fand Mesut Özil, und Thomas Müller stellte nüchtern fest: „„Er hat heute das gespielt, was ich von ihm erwartet habe, was ich von ihm kenne.“

Auch Höwedes, der für Kimmich auf die Bank musste, reagierte überraschend positiv: „Es war genau die richtige Entscheidung vom Coach, ihn zu bringen“, schrieb er auf seiner Facebookseite. „Wir müssen uns alle dem großen Ziel unterordnen und alle die Egos hinten anstellen“, so Höwedes.

Kimmich selbst blieb bescheiden und lobte seine Mitstreiter: „Es wurde mir einfach gemacht.“

Erst gegen bessere Gegner wird sich zeigen, wie es um Kimmichs Defensivarbeit bestellt ist. Doch gibt es vorerst keinen Grund, ihn wieder aus dem Team zu nehmen. Und beim VfB werden sie es noch einmal betrauern, das Eigengewächs einst nach Leipzig geschickt zu haben. Der Ex-VfB-Trainer Alexander Zorniger stellte einst fest: „Ich würde gerne jeden erschlagen, der an dieser Entscheidung beteiligt war.“ Kimmichs große Karriere scheint nun endgültig begonnen zu haben.