Der Innenverteidiger Jerome Boateng vom FC Bayern München schwingt sich zum Wortführer der deutschen Fußball-Nationalelf auf. Er ist die wohl prägendste Figur der bisherigen deutschen EM-Kampagne 2016.

Evian - Seine eigene Party will Jerome Boateng nicht stören. Eine akkurate Frisur trägt er und eine markante Brille aus der eigenen Kollektion, als der deutsche Nationalverteidiger am späten Donnerstagabend den Pokal entgegennimmt, den die Uefa feierlich dem „Spieler des Spiels“ überreicht. Den Dank an den Europameisterschaftsveranstalter verknüpft Boateng mit dem Dank an seine Mitspieler und sagt mit sanfter Stimme: „Die ganze Mannschaft hat defensiv sehr gut gearbeitet – dadurch ist es für mich einfacher gewesen.“

 

Das war’s dann aber auch mit dem Austausch von Nettigkeiten an offizieller Stelle.

Sichtbar wütend ist Jerome Boateng schon während des Spiels gegen Polen gewesen, als er André Schürrle, Thomas Müller und Benedikt Höwedes zurechtwies; wütend war er auch unmittelbar nach dem Schlusspfiff. Und besser ist auch seine Laune jetzt nicht, als er kurz vor Mitternacht seine Trophäe zum Mannschaftsbus trägt und auf dem Weg durch die Katakomben des Stade de France viel deutlichere Worte findet als eben auf dem Podium.

„Wir können froh sein, dass wir 0:0 gespielt haben“, knurrt der Münchner Abwehrspieler und ist nicht länger bereit, die Dinge schönzureden. Ungewohnt scharfe Kritik übt er stattdessen an seinen Vorderleuten, die trotz klarer Feldvorteile nicht in der Lage waren, nennenswerte Torchancen herauszuspielen. „Wir kommen an keinem Gegenspieler vorbei, wir werden nicht gefährlich.“ Das müsse sich schleunigst ändern, „sonst werden wir bei diesem Turnier nicht weit kommen“.

Jerome Boateng klärt immer wieder in höchster Not

Bezeichnend ist es, dass es das deutsche Team nach den beiden bisherigen EM-Partien gegen fast ausschließlich defensiv orientierte Mannschaften nicht zuletzt seinem Abwehrchef zu verdanken hat, als Gruppensieger das Achtelfinale erreichen zu können. Auf spektakuläre Weise hatte Boateng zum Auftakt gegen die Ukraine (2:0) auf der eigenen Torlinie geklärt; gegen Polen hinderte er mit einer ebenso spektakulären Grätsche seinen Münchner Teamkollegen Robert Lewandowski im letzten Moment daran, ein Tor zu schießen. Viel spricht dafür, dass Deutschland verloren hätte, wäre Boateng einen Schritt zu spät gekommen.

Damit ist Boateng endgültig die wohl prägendste Figur der bisherigen deutschen EM-Kampagne 2016 geworden. Gänzlich unfreiwillig war er schon vor dem Turnier in den Mittelpunkt geraten, als er im Zuge der Äußerungen des AfD-Politikers Alexander Gauland von einer gewaltigen Solidaritätswelle erfasst und zu Deutschlands liebstem Nachbarn erklärt wurde. Nun liegen ihm die Fans auch in seinem eigentlichen Aufgabengebiet zu Füßen. Wegen seiner Rettungsaktionen, an denen sich gegen Polen auch sein ebenso überzeugender Nebenmann Mats Hummels beteiligte – und wegen seiner deutlichen Worte, die in der Nationalmannschaft selten geworden sind. Die Mannschaft müsse aufwachen, sagt Boateng, „wir müssen viel mehr investieren, aggressiver sein, mehr Zweikämpfe gewinnen.“

Ob Sami Khedira oder Manuel Neuer als Stellvertreter von Bastian Schweinsteiger die Kapitänsbinde tragen würde, das war vor dem ersten Spiel die große Frage. Die Wahl des Bundestrainers Joachim Löw fiel auf den Torhüter – doch der eigentliche Anführer heißt derzeit Jerome Boateng.

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