Die EM-Geschichte wurde vielfach geprägt von deutschen Lichtgestalten. Einer war seiner Zeit voraus: Günter Netzer war der erste Popstar des deutschen Fußballs. Teil zwei der EM-Serie.
Stuttgart - Wenn Rudi Völler wütend und fuchsteufelswild wird, droht ein Blutvergießen. Mit geschwollenen Adern flucht er dann wie ein Bierkutscher – aber musste es wirklich bis zur Gotteslästerung gehen?
In den Himmel kommt Völler jedenfalls nicht mehr, denn er hat sich an jenem fürchterlichen Tag anno 2003 an einem Heiligen vergriffen. Zwar war Günter Netzer zu dem Zeitpunkt nicht mehr der „King vom Bökelberg“, sondern nur noch kritischer ARD-Experte – aber was der DFB-Teamchef Völler dem Nörgler Netzer an den Kopf warf, erfüllte den Tatbestand der Majestätsbeleidigung, und die wird seit der EM 1972 nach Paragraf 103 mit glatt Rot, schlimmstenfalls sogar mit drei Jahren Dunkelhaft bei Wasser und Brot bestraft.
Fauchend stieß der rüde Rudi die unfassbare Schmähung aus: „Der Netzer soll sich nicht aufblasen, das war doch Standfußball damals!“
Oder hat er Sitzfußball gesagt?
Netzer zelebrierte Traumfußball
Jedenfalls war es Traumfußball, den der sagenhafte Netzer bei der EM-Endrunde 1972 zelebrierte, leichter, lockerer, lebensbejahender Fußball, nahe der Perfektion. Die Kirchenglocken haben geläutet, und auf der Tribüne tunkten die Geschichtsschreiber wie elektrisiert ihre Federn in goldene Tinte, um das Einmalige für die Nachwelt der Zuspätgeborenen festzuhalten: Vom „Fußball des nächsten Jahrhunderts“ schwärmte die Pariser „L’Equipe“, und „Bild“ jubelte in voller Breite und Balkenhöhe: „Ramba-Zamba!“ Bomber Müller schoss mit Karamba die Tore, und Beckenbauer war der Ramba und Netzer der Zamba.
Günter Netzer war die vollendete Kunst in Person und überhaupt großes Kino. Er stand für eine neue Ballkultur, er war der erste Popstar des Fußballs, und Spielmacher war gar kein Ausdruck – er war unser Playboy.
In seiner Gladbacher Disco Lovers Lane mixte er feuchte Drinks, er fuhr Ferrari, wurde umzingelt von betörenden Frauen, und sein Spiel war der Ausdruck seines Lebensgefühls – die hemmungslosen Steilpässe standen für die neue deutsche Weltoffenheit, da blieb nichts übrig von der spießigen Enge der Nachkriegszeit.
Aus dem unwiderstehlichen Solo, das er im April 1971 in Wembley beim Viertelfinal-3:1 gegen die Engländer mit flatternder Mähne und Schuhgröße 47 aus der Tiefe des Raumes hinlegte, hätte man einen Videoclip basteln können, unterlegt mit fetziger Rockmusik, und Netzer hätte damit wochenlang die Hitlisten angeführt.
Noch kurz vor dem Totenbett schwärmte Bundestrainer Helmut Schön später: „Wenn es mir schlecht geht, hole ich mir das Video mit unserem Wembleyspiel raus.“ Falls er es mitgenommen hat in den Himmel, legen die Engel dort heute noch ergriffen die Harfen beiseite.
Mit dem Zauber der „10“
Netzer konnte alles, vom filigranen Pass bis zum perfiden Freistoß, und zu Recht trug er auf dem Rücken jene Zahl, die in den alten Schriften des Spiels noch erwähnt ist als Erkennungsmarke der genialen Strategen und großen Feldherrn. Mit dem Zauber der „10“ im Kreuz verband er die Genialität mit dem Wahnsinn. Ein Jahr später, im Pokalfinale gegen Köln, wechselte er sich in der Pause zur Verlängerung selbst ein, ohne seinen Gladbacher Trainer Hennes Weisweiler zu fragen, und schoss sofort das entscheidende Tor.
Er fragte ihn auch nicht, wenn er nach dem Nachmittagstraining von Düsseldorf nach München flog. Dort trat Netzer in der Comedykultserie „Klimbim“ als Heino-Imitator auf, machte mit seinem Regisseursfreund Michael Pfleghar und dessen Truppe um Iris Berben gerne mal die Nacht zum Tag – und flog mit der ersten Frühmaschine zum Training zurück.
Genies sind gelegentlich so frei. Eigenwillig, exzentrisch und extravagant dürfen sie sein, solange sie den Ball mühelos aus dem Fußgelenk schütteln wie damals Netzer. Aus jener 72er-Truppe hat er sogar Wolfgang Overath verdrängt, den man den „linken Fuß von Kölle“ nannte und über den eine brasilianische Zeitung schrieb: „Er hat die Grazie einer Primaballerina und die Intelligenz eines Einstein.“ Bundestrainer Schön hatte in der Schaltzentrale damals ein Luxusproblem: Wer passte vor dem Libero Beckenbauer als Regisseur besser, Overath oder Netzer? Die beiden lieferten sich einen erbitterten Kampf, der über die Herrschaft auf dem Platz irgendwann hinausging – wenn Männer streiten, geht es immer auch um ein Auto.
Zoff mit dem „Kaiser“ wegen eines Jaguars
Es war ein Jaguar E. „Das schönste Auto der Welt“, sagt Netzer. Ihm gehörte das Sahnestück. In einem Interview hat er erzählt, wie ihm dann zunächst Beckenbauer den flotten Flitzer abschwatzte, und damit ging der Ärger los, hören wir kurz rein: „Am nächsten Morgen ruft der Franz mich an und tobt: Günter, du bist ein Betrüger! Es regnet rein, und die Bremsen funktionieren nicht. Ich habe ihm gesagt: Franz, was willst du, es ist ein englisches Auto. Da hat er dieses wunderschöne Auto für 8000 Mark an Wolfgang Overath verkauft. Und was macht dieser Ignorant? Er lässt den Jaguar lila lackieren. Lila! Da hat man entzündete Augen gekriegt.“
Netzer bekam sie lange auch auf der Ersatzbank, denn bei den WM-Turnieren 1966 und 1970 (und 1974 dann wieder) spielte der laufstarke Overath. Der scheute keine Drecksarbeit, während Netzer zwar einen Hauch genialer, aber auch kraftsparender agierte – an seinen schwächeren Tagen, meckerte ein Kritiker, „ist er ein Rolls-Royce mit dem Motor eines Rasierapparats“. Bei der EM 1972 gab Netzer die passende Antwort, er lief mit Zusatzmotor: Herbert („Hacki“) Wimmer. Hacki lief sich für seinen Herrn die Hacken wund, wie bei den Borussen in Gladbach. Wimmer hielt Netzer den Rücken frei, schirmte ihn ab und schleppte die Bälle für ihn heran.
Zum Dank durfte der Adjutant im Brüsseler Finale 1972 dann sogar selbst ein Tor schießen, und womöglich hat ihm Netzer vor ein paar Jahren auch seine neue Hüfte bezahlt. Angesichts diverser Operationen und Abnutzungserscheinungen mutmaßt Hacki Wimmer inzwischen in launigen Interviews: „Ich habe mir damals für meinen Freund Günter die Hacken wohl etwas zu viel abgelaufen.“
Doppelpässe mit „Hacki“ Delling
Jedenfalls war Günter Netzer so begeistert, dass er sich auch später wieder seinen Wasserträger zulegte: Gerhard („Hacki“) Delling spielte ihm im ARD-Studio die Bälle zu, und Netzer konnte als Meister des Worts und freischwebender Feingeist des Fußballs glänzen – prompt gewann er auch noch den Grimme-Preis, und auch den wieder aus dem Stand.
Nie wird Rudi Völler verkraften, wie einer die Bequemlichkeit so gewinnbringend mit der Genialität verbinden kann.