Fahnen, Farben und Gesänge: Zum EM-Halbfinale heute geben sich die deutschen Fans wieder ganz national. Ist das schlimm?

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Wörter erzeugen Gefühle. Gefühle kann man inzwischen sehr genau messen. Der Berliner Psychologe Arthur Jacobs hat im Labor untersucht, welche deutschen Wörter besonders positive oder besonders negative Emotionen hervorrufen. In einer Art Hirnscanner wurde beobachtet, wie stark bei den Hörern etwa die Amygdala reagiert; das ist jener Teil des Gehirns, der uns auf Reize in unserer Umwelt mit Angst oder Ekel reagieren lässt. Dagegen leuchten im Scanner andere Areale des limbischen Systems auf, wenn es um Gefühle der Zustimmung, der Freude, des Wohlbehagens geht.

 

Das Ergebnis der Untersuchungen, die Jacobs gemeinsam mit dem Dichter Raoul Schrott unter dem Titel „Gehirn und Gedicht“ im Hanser Verlag veröffentlicht hat: Jene drei Substantive, die in den Testgruppen mit Abstand die positivsten Hirnreaktionen hervorriefen, sind: Liebe, Freiheit, Paradies. Und jene drei Substantive, die am entgegengesetzten Ende der Skala die negativsten Gefühle hervorrufen, lauten: Giftgas, Krieg, Nazi.

Mit Krieg hat das alles nichts zu tun

Dieses Resultat ist auch deswegen so bemerkenswert, weil jene zwei Substantivgruppen, die sich da antipodisch gegenüberstehen, von so unterschiedlicher Struktur sind. „Liebe“, „Freiheit“ und „Paradies“ sind ja drei abstrakte Begriffe und mehr oder weniger utopischen Inhalts. „Giftgas“, „Krieg“ und „Nazi“ dagegen benennen höchst konkrete Dinge; „Giftgas“ und „Nazi“ markieren im Gegensatz zu Größen wie „Liebe“ und „Freiheit“ gleich doppelt und dreifach die bittere Profanität des Schreckens.

In jedem Fall zeigt die Forschung hier eindrucksvoll, wie tief, ja geradezu instinktiv in den meisten Deutschen die Abneigung sitzt gegen ganz bestimmte, exakt zu beschreibende terroristische, menschenverachtende Umtriebe der deutschen Geschichte. Und wie wenig Anlass es darum gibt, aus den vielen deutschen Fähnchen, die gerade an Autos oder aus Hausfenstern wehen, oder aus den lauthals „Deutschland, Deutschland“ rufenden Fußballfans den Schluss zu ziehen, hier äußere sich ein neuer, dumpfer, reaktionärer und darum Erschrecken gebietender Nationalismus.

Nein, mit Giftgas, Krieg und Nazi hat das alles nichts zu tun; auch Donnerstagabend nicht, wenn das große „Schicksalsspiel“ gegen Italien auf dem Programm steht. Vielmehr legt sich schlicht und einfach seit zweieinhalb Wochen bei der Fußball-EM eine erfreulich bunt gemischte deutsche Nationalmannschaft derart ins Zeug – und zwar einerseits höchst engagiert, andererseits doch wieder unprätentiös und erstaunlich entspannt –, dass sich Millionen in Deutschland mit jenen Farben schmücken, die nicht nur die Farben dieser Mannschaft, sondern des ganzen Landes sind: schwarz, rot, gold.

Die Nazis hatten andere Farben

Man mag das albern finden. Beispielsweise, wenn sich junge Menschen beim Erklingen der Nationalhymne neuerdings ihre rechte Hand ans Herz legen. Andererseits gibt es Schlimmeres, was man den Amerikanern abgucken könnte. Man mag das Fußballfanwesen sogar anstrengend finden. Etwa, wenn angetrunkene Männer nach dem Spiel mit „Sieg, Sieg“-Rufen durch die Straßen ziehen. Aber so ist es nun mal mit dem Alkohol, und zwar aus jedem Anlass dieser Welt: Er befördert bei den Menschen deutlich stärker die unsympathischen als die sympathischen Eigenschaften. Sie wollen darum trotzdem nicht gleich die Grenzen in Europa neu ziehen.

Und um es einfach nochmals zu Protokoll zu geben: Nein, Schwarz-Rot-Gold ist nicht die Fahne der Nazis. Die deutschen Soldaten sind weder in den ersten noch in den zweiten Weltkrieg unter Schwarz-Rot-Gold marschiert. Dies sind vielmehr die Farben der deutschen Demokraten – und darum von den Neonazis tief verhasst und verunglimpft. Wie kläglich deren Versuche ausfallen, sich die EM-Begeisterung dennoch irgendwie zunutze zu machen, wird im Übrigen an einer Internetkampagne gegen den Spieler Mesut Özil deutlich. Wer soll denn diese unappetitlichen Angriffe gegen den angeblich „undeutschen“ Deutschtürken noch ernst nehmen, wenn doch die ganze DFB-Auswahl stark multikulturell und somit ein prägnantes Abbild der deutschen Gesellschaft ist?

Kultiviertheit statt Großspurigkeit

Was aber ist immer noch erstaunlich neu an jenem fröhlichen Fußball-Patriotismus, den so viele Deutsche in diesen Tagen zeigen? Neu ist, dass die dabei gezeigte Freude am deutschen Spiel tatsächlich wie eine Klammer funktioniert. Es gab ja schon immer Begeisterung für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft. Aber es gab auch Zeiten, da man in bestimmten, vornehmlich intellektuellen Kreisen sehr demonstrativ zeigte, sich explizit nicht für die deutsche Mannschaft zu begeistern. DFB, das war „Bild“. Wer sich für Fußball interessierte und dennoch Geschmack und aufrechte Gesinnung zeigen wollte, der schwärmte für Brasilien oder Italien. Der Autor dieses Artikels erinnert sich noch gut an die Begeisterung auf den Straßen in den Hamburger Szenevierteln, als 1992 Deutschland im Endspiel der Europameisterschaften gegen Dänemark . . . verlor!

Seit der Fußballweltmeisterschaft 2006 im eigenen Land, seit Jürgen Klinsmann und Joachim Löw hat sich dieses Bild grundlegend geändert. Alles, was die große Mehrheit der Deutschen trotz aller globalen Widrigkeiten an einem entspannten Lebensgefühl aus Liebe, Freiheit und Manchmal-fast-wie-im-Paradies schätzt, kann sie auf die heutige DFB-Auswahl guten Gewissens projizieren. Alles, was jemals an Großspurigkeit dem deutschen Fußball zu eigen war, ist zumindest auf dieser Etage einer frappierenden Zurückhaltung, also Kultiviertheit gewichen, die nun vor allem durch Qualität überzeugen will. Aus „Deutschland, Deutschland über alles“ wurde somit „Einigkeit und Recht und Freiheit“. Oder anders gesagt: auf die Frage, warum er in der Öffentlichkeit immer so schick gekleidet ist, antwortete Joachim Löw gerade in einem Interview: „Wir haben gesellschaftliche Verantwortung. Das geht nicht mehr in Schlappen.“

Die Amygdala reagiert sensibel

Es gibt manches, für das man sich in Deutschland schämen muss. Die Tatsache, dass eine Bande von Neonazis jahrelang Bürger ausländischer Herkunft ermorden konnte, zählt ebenso dazu wie die Tatsache, dass auch über ein halbes Jahr nach Enthüllung dieser Mordserie weder Politik noch Gesellschaft diesen Skandal irgendwie aufgearbeitet oder außer Worthülsen eine Antwort darauf gefunden hätten.

Für was sich aber niemand in diesem Land schämen muss, das sind schwarz-rot-goldenen Fahnen und Farben im Land (höchstens für die entsprechenden und unfreiwillig kondomisch wirkenden Auto-Außenspiegel-Überzieher). Ob es in der deutschen Gesellschaft wirklich einen unverfänglichen, unverdächtigen, unbeschwerten, also fröhlichen Patriotismus geben kann, gerade so, wie es der Tourist in England, Holland oder in skandinavischen Länder erleben kann, müssen wir grundsätzlich wohl noch eine Generation lang offen lassen (und wer weiß, was ein „Nationalstaat“ dann noch ist). Bis dahin aber ist unsere schwarz-rot-kunterbunt-goldene Nationalmannschaft ein guter Grund, wenigstens auf begrenztem Terrain schon mal zu üben. Und wer derweil glaubt, wieder die alten Gesänge der Nazis von Krieg und Giftgas anstimmen zu wollen, der muss wissen: die kollektive Amygdala reagiert darauf sensibel. Man muss nur darauf hören.