Die Sicherheitslage ist in Frankreich jetzt schon angespannt, Arbeitskämpfe herrschen im Land. Die Regierung will trotz allem ein großes Fußballfest ermöglichen.

Paris - Wenige Tage vor dem großen Fußballfest versucht Frankreichs Regierungschef Manuel Valls mit dem Mute der Verzweiflung, allseits aufflammende Arbeitskämpfe zu entschärfen. Für ein bisschen sozialen Frieden zum Auftakt der Fußballeuropameisterschaft zahlt der Premier mittlerweile fast jeden Preis – von einer Rücknahme der von ihm monatelang für unverzichtbar erklärten, bereits weitgehend ausgebeinten Arbeitsmarktreform einmal abgesehen.

 

So hat Valls den in unbefristeten Streik getretenen Eisenbahnern zum Entsetzen von Bahnchef Guillaume Pepy den Erhalt aus Zeiten staatlichen Eisenbahnmonopols stammender Privilegien zugesagt. Vor allem die überkommenen Arbeitszeitregelungen sollen Bestand haben. Wie die mit 50 Milliarden Euro verschuldete Bahngesellschaft SNCF unter diesen Voraussetzungen wettbewerbsfähiger werden und den 2020 auf den Markt drängenden privaten Anbietern Paroli bieten soll, ist nicht nur Pepy ein Rätsel, der frustriert seinen Rücktritt angeboten hat. Mag sein, dass der EM ein böses Erwachen folgt, scheint sich die Regierung zu sagen. Jetzt heißt es erst einmal das hässliche Bild eines reformunfähigen, blockierten Landes vergessen machen und ein rauschendes Fußballfest ausrichten.

Gewerkschaften sind kompromissbereit

Wie die reformbereite CFDT hat auch die Gewerkschaft UNSA das Entgegenkommen des Staates honoriert und ihren Streikaufruf zurückgenommen. Noch nicht eingelenkt hat die von Linksradikalen dominierte Gewerkschaft CGT, die nicht nur Forderungen der Eisenbahner durchsetzen, sondern auch die Reste einer früheren Arbeitsmarktreform vom Tisch haben will. Aber auch wenn ein CGT-Kommando am Donnerstag noch einmal die Muskeln spielen ließ, ein Stellwerk des Pariser Bahnhofs Gare de Lyon besetzte und für 90 Minuten den gesamten Zugverkehr blockierte: Die CGT zollt dem Ausscheren kompromissbereiter Gewerkschaften Tribut, schlägt konziliantere Töne an.

Womit an der sozialen Front nach dem Einlenken der von der Regierung ebenfalls mit Besitzstandgarantien besänftigten streikfesten Fluglotsen noch die Drohung der Air-France-Piloten bleibt, nach der EM-Eröffnung für vier Tage die Arbeit einzustellen. Während die Regierung an der Arbeitsmarktfront auf brüchigen Frieden hoffen darf, stößt sie im Kampf gegen den Terror an Grenzen. So sehr Frankreich auch gegen den „Islamischen Staat“ (IS) aufrüstet, Sicherheit wird es nicht geben. Oder wie es Innenminister Bernard Cazeneuve formuliert: „Hundertprozentige Sicherheitsvorkehrungen bedeuten nicht null Anschlagsrisiko.“

Im Stadium der fortgeschrittenen Erschöpfung

Am Einsatz fehlt es nicht. Rund 90 000 Polizisten, Gendarmen, Soldaten und Geheimdienstmitarbeiter sollen über die EM wachen. Noch nie hat der Staat bei einem Großereignis einen derart hohen Sicherheitsaufwand betrieben. Aus Sicht der seit den Pariser Attentaten vom vergangenen November Dauereinsatz verrichtenden Sicherheitskräfte ist er zu hoch, verlangt ihnen mehr ab, als sie leisten können. In einem Mitte der Woche an die Öffentlichkeit gelangten Schreiben an Innenminister Cazeneuve beklagt der Pariser Polizeipräfekt Michel Cadot ein „Stadium fortgeschrittener Erschöpfung“ seiner Leute und bittet darum, ihnen während der EM-Spiele in den Pariser Stadien einen Einsatz in der Fan-Zone am Eiffelturm zu ersparen. Bis zu 92 000 Zuschauer werden dort beim Public-Viewing erwartet.

Cadot appelliert, die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo aufzufordern, die Fan-Zone an den zwölf Tagen zu schließen, an denen im Stade de France oder im Pariser Prinzenpark gespielt wird. Die terroristische Bedrohung, Alkoholkonsum, Hooligans, die Bewachung der Stadien, Hotels und Mannschaftsquartiere, die weiter schwelenden Arbeitskämpfe, das seien der Herausforderungen zu viele, gibt der Präfekt zu verstehen. Wenn alles zusammenkomme, sei „eine optimale Sicherung nicht mehr möglich“.

Gute Miene zum bösen Spiel

Doch auch in diesem Fall gilt: So hoch der Preis auch ist, Frankreich will ein rauschendes Fußballfest ausrichten, sich weltweit als vorbildlicher EM-Gastgeber empfehlen. Allenfalls wenn konkrete Hinweise auf einen geplanten Anschlag vorlägen, komme die Schließung einer der zehn Fan-Zonen des Landes in Frage, hat Regierungschef Valls klargestellt. Woraufhin Cadot am Freitag gute Miene zum bösen Spiel gemacht und versichert hat, die Regierung habe versprochen, zur Sicherung der Fan-Zonen zusätzliche Kräfte abzustellen.

Was nach Verstärkung klingt, ist freilich keine, handelt es sich bei den zusätzlichen Kräften doch um seit März fest eingeplante 12 000 neue Mitarbeiter privater Sicherheitsdienste. In 140 Stunden zum Hilfspolizisten ausgebildet, sollen die unbewaffneten, mit Metalldetektoren ausgestatteten Kontrolleure Fans nach Waffen abtasten, Taschen und Rucksäcke inspizieren und Besuchern mit großen Gepäckstücken den Eintritt verwehren. Wobei es nicht nur der Schutz der Fan-Zonen ist, der Kopfzerbrechen bereitet. „Wie sollen wir bloß die sich vor den Fernsehern der Straßencafés drängenden Menschentrauben schützen“, fragt ein hoher Beamter des Innenministeriums. Patrick Calvar, Chef des Inlandsgeheimdienstes, hat Mitte Mai von ihm vorliegenden Informationen berichtet, wonach der „Islamische Staat“ neue Anschläge plane und Frankreich ins Visier genommen habe. „Es geht nicht mehr darum, ob er zuschlägt, sondern nur noch darum, wann und wo“, sagte Calvar.

Normal weiterleben

Der Geheimdienstchef hält für gut möglich, dass die Terroristen das nächste Mal anders vorgehen als im November, nicht mehr Selbstmordattentäter schicken, sondern versuchen, mit an mehreren Orten gleichzeitig explodierenden Bomben Panik auszulösen. Eine von IS-Sprecher Abou Mohammed al-Adani am 21. Mai ins Internet gestellte Aufnahme, in der er den am 6. Juni beginnenden islamischen Fastenmonat Ramadan als Monat des Dschihad preist, passt ins düstere Bild.

Wenig zuversichtlich stimmt schließlich auch der Bericht eines ARD-Teams, dessen als Fans getarnte Reporter während des EM-Testspiels der französischen Nationalelf gegen Kamerun Ketchup-Plastikflaschen ins Stadion von Nantes schmuggeln konnten. Die Uefa verwies anschließend darauf, dass Nantes kein EM-Austragungsort sei und während der EM wesentlich strengere Sicherheitskontrollen gelten würden als bei Testbegegnungen im Vorfeld. Und Innenminister Cazeneuve stellte klar: „Niemand und schon gar nicht die Terroristen werden die Franzosen daran hindern, normal weiterzuleben.“