In Madrid erwartete die spanische Nationalmannschaft ein wahrhaft königlicher Empfang – der Fußball schweißt Spanien allerdings nicht zusammen, wie es Spaniens Konservative gerne hätten.

Korrespondenten: Martin Dahms (mda)

Madrid - Überraschenderweise fängt dieser Montag an wie jeder Montag. Die Menschen eilen, wenn sie eine haben, zur Arbeit; Lieferwagen verstopfen die Straßen; Männer mit Presslufthämmern reißen einen Bürgersteig auf, um Stromkabel zu verlegen. Die Sonne scheint, wie sich das für einen Julianfang gehört, doch die Hitzewelle, die in der vergangenen Woche über das Land ging, ist vorerst verebbt.

 

Das Fest beginnt am Zeitungskiosk. Die Titelseiten der Zeitungen, die Stapel an Stapel zum Verkauf ausliegen, sind eine Orgie in Rot-Gelb-Rot. „Unbesiegbares Spanien“ (ABC). „España España España” (La Razón). „Historisch“ (El Mundo Deportivo). „Spanien erobert die dreifache Krone“ (El País). Der Kioskbetreiber verkauft die Zeitungen mit einem beinahe beschämten Lächeln. Aus einem an der Ampel wartenden Auto schallt ein Radioprogramm: „Jetzt holen wir den vierten Titel in Brasilien“, wagt da jemand vorherzusagen. Währenddessen plant in einer Cafeteria um die Ecke eine Gruppe von Männern den Abend. „Um halb vier kommen sie in Barajas an, um halb neun wollen sie am Cibeles-Brunnen sein“, sagt einer. „Mal sehen, ob wir uns dorthin durchschlagen können.“

Alle Tiki-Taka-Kritiker wurden zum Schweigen gebracht

In den Alltag mischt sich an diesem Montag in ganz Spanien mindestens eine Messerspitze Euphorie. Spaniens Fußball-Nationalmannschaft hat am Vorabend die italienische mit 4:0 besiegt, womit Spanien Europameister geworden ist und sich den dritten internationalen Titel nach der EM 2008 und der WM 2010 geholt hat. Noch dazu mit einem hinreißenden Spiel, das alle Tiki-Taka-Kritiker für eine Weile zum Schweigen bringen sollte. Um Spiel und Sieg zu beschreiben, benutzen Spaniens Sportreporter und Kommentatoren mit solcher Hingabe das Wort „historisch“, dass es an Missbrauch grenzt. Die Spanier, die sich noch ein wenig Nüchternheit bewahrt haben, können es schon nicht mehr hören. Aber freuen tun sie sich trotzdem.

Jahrzehntelang versuchte alle Welt, das Rätsel des spanischen Fußballs zu ergründen: das Rätsel der Misserfolge seiner Nationalmannschaft. Einmal, 1964, gewann sie die Europameisterschaft im eigenen Land. Dann vier Jahrzehnte gar nichts. Und seit 2008 alles. Die einfachste Erklärung für die jüngsten Erfolge ist wahrscheinlich die beste: Gute Trainer haben mit guter Taktik aus guten Fußballspielern eine gute Mannschaft gemacht. Beliebt war früher der Verweis auf die zersplitterte Nation: Weil das Herz von Katalanen und Basken nicht für Spanien schlage, gäben sie im spanischen Team nicht ihr Bestes. Nun denn: der baskische und vor allem der katalanische Separatismus sind heute viel stärker als noch vor zehn Jahren.

Ein Sieg über Deutschland hätte für mehr Jubel gesorgt

Der Fußball schweißt Spanien nicht zusammen, wie es Spaniens Konservative gerne hätten, aber er löst eine gemeinsame Begeisterung aus. 83,4 Prozent der spanischen Fernsehzuschauer sahen das Endspiel. Und auch wenn dieser Wert in Katalonien nur 74,3 Prozent erreichte und im Baskenland 72,1 Prozent – allgemeines Desinteresse lässt sich aus diesen Zahlen nicht ablesen. In der Nacht zum Montag feierten die Fans zu Tausenden auf den Straßen Barcelonas, jubelten und schwenkten spanische Fahnen. Ganz ähnlich wie die Fans in Madrid. Die einen wie die anderen ließen ihre weniger fußballfanatisierten Mitmenschen schlecht schlafen.

Nur eines hätte den Jubel der Spanier vielleicht noch stärker anheizen können: „ein Sieg über Deutschland“, meinte nach dem Spiel eine Spanierin in einer privaten Runde in Madrid. Die Spanier schätzen die Deutschen, halten sie im Moment aber (auch fußballerisch) für etwas überheblich. Zugleich ahnen sie, dass umgekehrt der Blick der Deutschen auf ihr Land ein recht kritischer ist. „Was meinst du, was die Deutschen gerade über uns denken?“, fragte eine zweite Spanierin die erste. „Wie wir jubeln und jubeln, während unsere Wirtschaft den Bach runtergeht.“ Ja, gab die erste zu: „Brot und Spiele – nur ohne Brot.“

Auch im Moment des Triumphgefühls vergessen die Spanier nicht, dass ihr Land in der schwersten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten steckt. Der Beginn der Krise fiel ziemlich genau mit dem spanischen Sieg über Deutschland im EM-Endspiel vor vier Jahren zusammen. Was immer es für Hypothesen über die beflügelnde Wirkung fußballerischer Erfolge für die Wirtschaft gibt – die spanischen Erfahrungen widersprechen ihnen. Auch die dritte Krone dürfte keine Wunder tun. „Etwas wird’s wohl helfen“, spricht sich Andrés Sánchez, der Geschäftsführer eines kleinen Supermarktes in der Madrider Innenstadt Mut zu. „Heute Morgen war kaum jemand im Laden. Die schlafen wohl noch ihren Rausch aus.“

Held der Stunde ist Trainer Vicente del Bosque

Spätestens am Nachmittag sind die Spanier wieder wach. Kurz vor 16 Uhr landet ein Flugzeug aus Kiew mit den spanischen Europameistern an Bord auf dem Madrider Flughafen Barajas. Mindestens fünf Fernsehsender berichten live vom Airport. Für alle anderen Nachrichten ist wenig Platz. Börse schwankend. Rendite spanischer Zehnjahresanleihen stabil. Schlimmste Waldbrände in der Gegend von Valencia seit Jahrzehnten. „Spanien feiert die Roja“, berichtet „El País“ online um 16.15 Uhr.

Unter den Helden des Tages ist ein stiller , dessen Ruhm den all der anderen überstrahlt: Vicente del Bosque, der Nationaltrainer. Könnten die Spanier ihren König wählen, del Bosque hätte gute Chancen auf das Amt. Er geht nicht Elefanten jagen wie Juan Carlos, sondern tut seine Arbeit, ohne viel Aufhebens. Nach dem Sieg in Kiew bedankt er sich bei seinem Vorgänger, Luis Aragonés, der den ersten Titel vor vier Jahren errang, und lobt die Italiener: „Der Unterschied war nicht so groß.“

Einmal ist del Bosque, „dieser Kavalier, dieser weise Trainer“ (El País), doch aus der Haut gefahren. Das war vor zwei Wochen, nach dem glücklichen Sieg seiner Mannschaft über Kroatien. Er war überrascht, wie viel Kritik das Team einstecken musste, und kam zu dem Schluss: „Wir sind schnell von Armen zu Reichen aufgestiegen und wissen das, was wir haben, nicht zu würdigen.“ Er meinte das ganz und gar fußballerisch: Spanien hatte sich in kurzer Zeit ans Gewinnen gewöhnt, eine mittelmäßige Leistung mit gutem Ergebnis war den Spaniern plötzlich nicht mehr genug.

Die Bemerkung del Bosques gab in Spanien viel zu reden – weil sie sich so schön auf das ganze Land münzen ließ. Von 1994 bis 2007, zwischen Krise und Krise, war Spaniens Wirtschaft fantastisch gewachsen, im Land entstanden täglich 1000 neue Arbeitsplätze, das Pro-Kopf-Einkommen übertraf schließlich das italienische. Dann platzte die Immobilienblase, und alle Fortschritte der guten Jahre standen mit einem Mal infrage. Statt Vertrauen aus dem schon einmal Erlangten zu ziehen, zweifeln die Spanier an ihren Fähigkeiten, aus dieser Krise wieder herauszufinden.

Am Montagabend ziehen die spanischen Fußballhelden im offenen Doppeldeckerbus durch die Innenstadt von Madrid, in Richtung auf den Cibeles-Brunnen. Die Menschen bejubeln sie. Die Fußballer haben ihnen gezeigt, dass Spanier zu Spitzenleistungen fähig sind. Das ist ein kleiner, ganz kleiner Vertrauensschub für ein Land, das gerade in Selbstzweifeln versinkt.